Freitag, 29. Oktober 2010

Das Sein im Blickwinkel der Gestalttherapie


Abbildung: Gestalt im Kontakt (Mensch©)



Abbildung: Gestaltzyklus (Mensch©) nach Blankertz & Doubrawa 2005; Ermann 2007; Müller 2001






 Die Gestalttherapie hat wie kaum eine andere psychotherapeutische Ausrichtung den psychischen Zustand des In-Situation-seins (vgl. Sartre, 2006, S. 941 ff) – die Fokussierung des reflexiven Cogitos mit seinem selbstzersetzenden Gedankenkreisen hin zu dem Zustand des präreflexiven Cogitos im Kontakt des Hier und Jetzt – betont.                         

Man kann insgesamt feststellen, dass, aus existenzphilosophischer Perspektive betrachtet, die unterschiedlichen und sich voneinander abgrenzenden Theoriekonstrukte psychotherapeutischer Behandlung jeweils spezifische psychologische Teilaspekte der menschlichen Existenz zu erklären und zu behandeln versuchen.                                                          

Die Objektbeziehungstheorie der Psychoanalyse betont beispielsweise das Selbst-sein als ein co-existentes Ganz-sein von ,guten’ und ,bösen’ Introjekten beziehungsweise von sämtlichen Selbst- und Objektrepräsentanzen (vgl. Kapfhammer, 2007, S. 100 ff). Sie beschreibt die Abwehrmechanismen als eine schützende Kompensation der Angst des Ichs, das sich durch die erwartete Ablehnung durch die versagende Objektumwelt und später durch die verinnerlichten ,bösen’ Selbstanteile existenziell bedroht fühlt, sich also in einem widersprüchlichen Konflikt zwischen eigenen Bedürfnissen einerseits und spezifischen Umweltanforderungen andererseits befindet. Die Logotherapie dagegen (vgl. Frankl, 2005, S. 17 ff, 37 ff, 66 ff, 118 ff) betrachtet die Sinn verleihende Konsequenz des Sich-in-Situation-begebens und beschreibt hierbei die Gefahr der Selbstdestruktion des nun auf sich selbst gerichteten Bewusstseins, das sich als ein in die Welt ohne Sinn – noogen – geworfenes Existieren reflektiert. Dann gibt es beispielsweise noch aus der Verhaltenstherapie die Konstrukte der Kognitionsschemata und anderer Kognitionsmodelle, welche die psychischen Konflikte des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt sowie die daraus entstehenden Symptome als Denk- und Wahrnehmungsfehler zu erklären versuchen und ihre Genese aus den Lerntheorien ableiten. Und da sind nicht zuletzt die zahlreichen körper- und kreativtherapeutischen Ausrichtungen, die das Bewusstsein durch körperliche oder andersartige die Sinne reizende Betätigungen in eine gerichtete Situation bringen und es so unter anderem vom Verharren in der Selbstreflexion ablenken.                                                                   

Hier geht es nun aber konkret um die Gestalttherapie. Sie konzentriert sich nämlich insbesondere auf den Zustand des Kontaktes. Im Kontakt erfasst und empfindet sich der Mensch als ein Seiender sowohl im physischen als auch im psychischen Sinne, nämlich als er ,selbst’ (vgl. Goodman, Hefferline & Perls, 2006, S. 21 ff; 209 ff). Im Folgenden soll nun eine mögliche existenzialistische Betrachtung der Gestalttherapie etwas näher beleuchtet werden.                          

Jeder Organismus ist durch seine Grenze zu seiner Umwelt definiert. Er besteht zu Teilen aus dem rein Organismischen aber im Bereich seiner Grenze zur Umwelt auch aus Teilen derselben. Er ist demnach immer Teil eines Organismus-Umweltfeldes und ist mehr oder weniger bewusst durch einen Entwurf in seine Umwelt engagiert. Das muss er auch, will er nicht kontaktlos in der Selbstreflexion beziehungsweise Retroflexion (vgl. Perls, 2007, S. 264 ff) und Selbstnichtung verharren und sich letztlich als ein leeres Nichts empfinden, welches nichts mehr aus seiner lebensnotwendigen Umwelt assimiliert. Kontakt heißt demnach aus ontologischer Sicht nichts anderes, als mit der physisch wie psychisch versorgenden Umwelt durch einen mehr oder weniger bewussten Selbstentwurf in Bezug auf diese in einer existenziellen und gegenseitigen Verbindlichkeit der Seinsspiegelung verbunden zu sein und so mit dem gerichteten Bewusstsein Erfahrungen zu sammeln, die das Fortbestehen des Organismus’ sichern sollen. Im Kontakt findet also ein sowohl psychischer als auch physischer Austausch zwischen dem Organismus und seiner Umwelt statt. Es kann sich um Meinungen, Gefühle, Verhaltensweisen, Nahrung oder ähnliches aber auch um Gegenstände handeln, die man dabei zu seinen ganz eigenen assimiliert. Sich in die Umwelt zu engagieren bedeutet demnach, sich wiederkehrend aktiv in die Strömung des Flusses des Lebens zu begeben und sich dabei immer aufs Neue selbstvergessen als ein absolutes Ganzes in Verbundenheit mit seiner Umwelt zu empfinden, ohne sich als solches ständig zu reflektieren. Das Selbst als Zustand und nicht als vermeintlich abgegrenzte psychische Substanz wird hierbei als ein Ganz-sein erfahren, da im Kontakt eine unmerkliche sinnliche und psychische Reaktion der Umwelt auf das eigene physische und psychische Sein erfolgt. Der vor dem Kontakt existierende Widerstand der Umwelt – die Kontaktgrenze – wird hierbei zeitweise aufgehoben, so dass man sich regelrecht als durch sie hindurchgleitend erfährt. Erst im Eintauchen in die Umwelt formt sich also das Selbst heraus, sodass man sich selbst als seiend empfindet.                                                                               

Welche Bedeutung kommt nun dem Konstrukt der Gestalt – der Figur-Hintergrundbildung – zu? Allgemein kann man festhalten, dass die spezifische Figur- Grundkonstellationen eines jeden Menschen sogenannte offene Gestalten, also charakterliche Verhaltens-, Wahrnehmungs-, Denk- und Fühlmuster, darstellen, welche zu großen Teilen in seiner individuellen Geschichte entwickelt wurden. ,Geöffnet’ werden diese von außen erlebbaren Gestalten vor einem meistens inzwischen unbewussten Bedürfnishintergrund, der aus einem einst unbefriedigt gebliebenem organismischem Bedürfnis herrührt. Das Bedürfnis konnte aus irgendwelchen Angst machenden Gründen in einem ungünstigen Organismus-Umweltfeld nicht befriedigt werden und blieben somit in einer gewissen Erregung und Spannung ,offen’. Mit dem unbefriedigt gebliebenem Bedürfnis ist immer eine organismische sowohl physische als auch psychische Erregung und Spannung verbunden, die manchmal als inhaltlich klar spürbare oder auch unbewusste diffuse Angst erlebt wird. Die Angst resultiert aus der befürchteten Ablehnung des Organismus’ durch seine Umwelt, wenn er seiner Umwelt gegenüber sein offenes Bedürfnis mit der Erwartung einer Befriedigung desselben zeigt, jedoch die Erfahrung einer Ablehnung dieses Bedürfnisses und damit eine empfundene Ablehnung seiner Existenz gemacht hat beziehungsweise diese als solche empfand. Es kann hierdurch eine subtile existenzielle Angst um das Fortbestehen der eigenen Existenz entstehen, obwohl es ursprünglich nur um die Befriedigung eines organismischen Bedürfnisses ging. Das sich durch innere Erregung aufdrängende ursprüngliche Bedürfnis löst von nun an  sofort eine existenzielle Angst vor Ablehnung und Versagung des Bedürfnisses aber auch des gesamten Organismus’ aus, der sich mit seinem Bedürfnis an seine Umwelt richtet. Die mit der Angst einhergehende Spannung ist das offene und unbefriedigte Bedürfnis. Diese Spannung sowie die Angst vor der Ablehnung bei Einfordern der Befriedigung bilden später den treibenden ,Motor’ für die wiederkehrenden Versuche, die offenen Bedürfnisse nachträglich zu befriedigen. Die Versuche einer nachträglichen Befriedigung – also einer Gestaltschließung zu einem Empfinden einer inneren Ruhe und Bedürfnislosigkeit – wiederum zeigen sich in allerlei erleb- und beobachtbaren Verhaltensmustern, Ängsten, Süchten und Leidenschaften. Hier soll es nun um die offenen Gestalten gehen, also um die teils unbewussten Schließungsversuche.                                                                       

Auf dem Weg dieses wiederkehrenden und erzwungen wirkenden Gestaltschließungsversuches findet, ähnlich einer Suchtbefriedigung, der folgende Prozess statt. Die Erfüllung der Leidenschaft – der Suchtbefriedigung durch die Droge, die viele Namen hat – fühlt man sich zunächst durch sein offenes Bedürfnis in Anbetracht einer möglichen bevorstehenden Befriedigung geradezu getrieben. Nach dem Kontaktvollzug empfindet man sich allerdings nur kurzzeitig als ruhig und tief zufrieden und als ganz man selbst seiend. Es ist der Zustand der absoluten Befriedigung und Angstfreiheit, da die immer noch Angst machende Umwelt vermieden und umgangen wurde. Das dann im Kontakt mit der Umwelt empfundene Selbst ist also eine befreiende und angstlose Selbstlosigkeit, die zugleich als ein ersehnter Zustand angesehen werden kann, den man hierbei jedoch nur ersatzweise mit Drogen aller Art zu erreichen versucht. Im Falle einer Ersatzbefriedigung empfindet man sich jedoch nicht als man ,Selbst’, sondern als Ich.                                                 

Sich spüren heißt daher immer auch, sich als ein bestimmtes und definiertes Ganzes wahrzunehmen, ohne sich dabei selbst als eine abgelehnte, isolierte, minderwertige oder gar sterbliche Existenz infrage stellen zu können. Nun gestalten wir aber unsere Leben – unsere Kontaktzyklen – immer nach demselben individuellen und süchtigen Grundmuster, das auch als Gestalt- oder Figur-Hintergrundbildung bezeichnet wird. Dieses Muster, mit dem wir wiederkehrend an die Umwelt herantreten, ist das seit frühester Kindheit eingespurte und einst bewährte Ablenkungsverfahren der Psyche gegenüber der Angst vor dem Nicht-sein und letztlich vor dem Tod, welche dann auftritt, sobald sich das alte organismische Bedürfnis wieder regt. Die Ablenkung zielt darauf ab, sich trotz seines Bedürfnisses als gut, voll und liebenswert zu empfinden. Die Ablenkung ist der Versuch, sich selbst mit den Sinnen sinnvoll und objektgerichtet spürbar existieren zu machen, was buchstäblich ein Existieren im Hier und Jetzt bedeutet. Der treibende Hintergrund ist immer das latente offene Bedürfnis und das damit einhergehende Nichtseinsempfinden des von der Angst vor Ablehnung getriebenen Menschen. Und die Figur, die aus einem empfundenen Seinsmangel hervortritt, versucht in Quantität und Qualität ihrer geprägten Art und Weise dem Nichtseinskomplex kompensatorisch zu begegnen. Die Figur tritt immer dann in den Vordergrund, wenn in einer aktuellen Situation eine früher erlebte Situation mit einst real empfundener Existenzangst erinnert (getriggert) und wachgerufen wird. Die Figur ist also getrieben von der Leidenschaft, ohne die uns das Sein ein Leiden schafft. Kontaktlosigkeit, kontaktlose Selbstreflexion, falscher Kontakt, der nicht zur ursprünglich notwendigen Befriedigung führt, und Selbstfragmentierung machen Angst vor dem Nicht-sein und führen zum Verharren in neurotischer Untriebigkeit, Untätigkeit, Leere oder sogar Sinnlosigkeit. Und diese Angst lässt den Menschen auf Dauer in die Langeweile fallen (vgl. Schopenhauer, 1986), nervös und ungehalten werden und ihn vor psychischer Anspannung innerlich fast zerspringen bis hin zum seelischen ,Kurzschluss’ einer Ohnmacht oder einer Psychose. Das Empfinden der unerträglichen Seinsleere und der aus ihr hervorgehenden Existenzangst bilden die neurotisch treibende Spannung, durch die sich die Figur vom Hintergrund der Leere abhebt, um im Kontakt mittels vitaler Strebungen ein volles Seinsgefühl durch ein selbstvergessenes Selbst zu erschaffen. Die Gestalt als kurzweilige Identifizierung mit einem aktuellen Bedürfnis soll das Seinsbedürfnis befriedigen und die Spannung abbauen, was infolge eines gelingenden Kontaktes mit der Umwelt ein Schließen dieser Gestalt und eine ebenso vollständige Angstlosigkeit zur Folge hat. Im neurotischen Fall jedoch tritt die Figur quasi begierig suchend und von Existenzangst getrieben aus dem Hintergrund hervor und versucht auf gewohnte und einst bewährte jedoch erfolglose Art und Weise mit der Umwelt in Kontakt zu treten, um sich an diese beziehungsweise diese an sich heranzuziehen. In jedem Fall findet ein Sich-verbinden beziehungsweise Sich-in-Situation-begeben statt, welches das Bewusstsein vollständig auf die Objektwelt zu lenken vermag. Im Moment der Ablenkung und Ausrichtung des Bewusstseins auf die Umwelt kann keine von Existenzangst getriebene Selbstfragmentierung mehr stattfinden. Dieses Sich-in-Situation-begeben wird dann jedoch aus Angst vor Ablehnung oder Zurückweisung durch die Umwelt ersatzweise und deflektierend (vgl. Blankertz & Doubrawa, 2005, S. 51 ff) häufig am eigenen Organismus oder der unbelebten Umwelt vollzogen. Die Gestalt ist nun infolge des gelungenen Kontakts am Ende des Gestaltzyklus’ solange selbstvergessen im engagierten Seinsentwurf geschlossen, bis aus der Ruhe der Befriedigung und Sättigung des Seinsgefühls das ursprüngliche und eben erneut nicht befriedigte Bedürfnis durch innere Erregung und Spannung auftaucht, was nichts anderes bedeutet, als dass unter dem eben gewähnten Selbstbewusstsein des mit der Ersatzbefriedigung identifizierten Ichs wieder der allgegenwärtige Nichtseinskomplex durch intrapsychische oder interpsychische Anzweiflung auftaucht, ähnlich dem erneuten Appetitempfinden nach der Sättigung mit der falschen Nahrung. Je nachdem, wie groß das Empfinden des Nicht-seins ist, hebt sich entsprechend getrieben kompensatorisch auch wieder die Figur von ihrem Hintergrund ab. Der Kontakt mit der Umwelt muss dann umso heftiger sein, je weniger ein grundlegendes, ruhiges und unerschütterliches Seinsempfinden vorherrscht. Die Umwelt, mit der man im Kontakt ist, kann jedoch durch ihr längerfristig ermangelndes Ablenkungspotential gegenüber dem Organismus das neurotische Drängen der Figur nach Ablenkung nicht ständig weiter befriedigen, da bei einem mangelnden Gefühl einer inneren guten ,Verankerung’ durch eine echte Bedürfnisbefriedigung die durchblitzende empfundene Nichtigkeit des Seins immer weiter durchscheint und nur noch durch noch mehr Sich-in-Situation-begeben und Sinnesreize aus der Umwelt abzulenken ist. So kommt es zum erneuten Infragestellen der gerade erst scheinbar geschlossenen Gestalt und folglich zum Suchen der Figur nach befriedigendem Kontakt. In der neurotischen und übervorsichtigen Selbstreflexion durch das reflexive Cogito zerfällt die geschlossene Gestalt immer wieder, und mit der einhergehenden Existenzangst verblasst das empfundene Selbst und wird wieder zu unzähligen sinnlosen und sich anfeindenden Selbstfragmenten und Entwurfmöglichkeiten. Ein neuer Kontaktzyklus (vgl. Blankertz & Doubrawa, 2005, S. 122 ff, 137 ff) muss nun kompensatorisch vollzogen werden, um ein grundlegendes Identitätsgefühl zu vermitteln. Jedes einseitige und vom klassischen Kontaktzyklus abweichende neurotische oder psychotische Kontaktmuster beziehungsweise jede Gestalt ist also ein Ablenkungsmuster vom Nichtseinskomplex.                         

Wie geht nun aber die Gestalttherapie mit dem suboptimalen Kontaktverhalten um? Sie möchte ja dem Menschen dazu verhelfen, seine alte unbefriedigte, einseitige und unerledigte drängende Gestalt nach Seinsempfinden zu schließen und so sein ihn behinderndes Kontaktmuster loszulassen, um flexibel neue und breitgefächerte Erfahrungen (Assimilationen) durch neue Kontakte machen zu können. Mit diesem Ziel, das Kontaktrepertoire eines jeden Einzelnen gegenüber seiner Umwelt zu erweitern, indem alte verfestigte und vom Wesentlichen ablenkende Muster (Vermeidung eines vollständigen und befriedigenden Kontakts mit der Objektumwelt) bewusst gemacht werden, strebt sie mehr Wahlfreiheit unter nun vielen sich ergebenden Selbstentwürfen (Figuren) und damit letztlich mehr Selbst- und Fremdakzeptanz an (vgl. Staemmler, 1999). Indem die einseitigen Entwürfe – neurotischen offenen Gestalten beziehungsweise suboptimalen Kontaktmuster – bewusst gemacht werden, werden auch die ursprünglichen unerfüllten Bedürfnisse sowie deren Hemmmechanismen bewusst, die nun zunächst akzeptiert und dann unbewusst sortiert und durch das natürliche organismische Wachstumsstreben reintegriert werden. Die Bewusstmachung geschieht in erster Linie durch gelegentliche Unterbrechung, Überbetonung oder Polarisierung einschränkender und einengender Kontaktmuster beziehungsweise Gestalten. Dadurch werden in einer zunächst angeleiteten Selbstexploration die darunter liegende frühkindliche Existenzangst und das mit ihr einhergehende ursprüngliche organismische Bedürfnis spürbar gemacht und eine Überprüfung in der jetzigen Realität bezüglich der aktuellen fehlenden Bedrohung ermöglicht. Wird erkannt, dass man das einengende und einseitige Kontaktmuster gar nicht mehr benötigt, da von der aktuellen Umwelt gar keine existenzielle Bedrohung mehr ausgeht, kann zunächst eine Akzeptanz dieses Musters geschehen und dann auch eine Reintegration ins Innerseelische, in welchem es an existenzieller Dringlichkeit verliert. Diese Selbstakzeptanz durch das Erkennen, dass ein störendes Kontaktmuster einst überlebensnotwendig für das Fortbestehen des Organismus’ unter beschränkten Umwelt- aber auch Organismusbedingungen war, bildet die Basis, auf der der Mensch – existenzphilosophisch gesehen – seine Freiheit für einen selbstbestimmten Entwurf zurückerhält.                                                                   

Die Gestalttherapie ist mit ihrem ganzheitlichen Konzept auf kognitiver, habitueller, emotionaler und sensorischer Ebene sehr gut imstande, den Menschen mit seinen sich widersprechenden frühesten (somatisch-vegetativen) Selbstentwürfen versöhnend in Kontakt zu bringen und diese dadurch zu einem bewussteren und repertoirereicheren Entwurf zu führen, in dem er in der Kurve der klassischen Gestaltwelle (vgl. Blankertz & Doubrawa, 2005, S. 122 ff) ruhiger, selbstvergessener und weniger existenziell getrieben schwingen kann. Die Gestalttherapie fördert die Selbstannahme durch das Wiederentdecken der ursprünglich unbefriedigten Bedürfnisse (offenen Gestalten) und der damit einhergehenden neuen Möglichkeiten zu deren heutigen Befriedigung in einem veränderten Organismus-Umweltfeld. Jedoch dürfen hierbei nicht einfach nur bloße gestalttherapeutische Techniken als reine Werkzeuge eingesetzt werden, ohne dabei die Beziehung als tragenden und sicheren existenziellen Grund zu berücksichtigen. So kann im Sinne der Retroflexion (vgl. Goodman, Hefferline und Perls, 2006, S. 319 f.; 2007, S. 200 ff) ein viel akzeptanzvollerer Dialog zwischen den sich widersprechenden Selbstfragmenten stattfinden. In der Selbstannahme wird man mutiger und verspürt weniger Angst vor Entwertung, Ablehnung und vermeintlich existenzieller Vernichtung durch sein Gegenüber (vgl. Polster, 2009, S. 128). So kommt man zunehmend zu einer inneren Verankerung im Gut-sein und kann sich in seinem Selbst dem Lebensprozess als einer endlosen Folge von ungehinderten Kontaktzyklen entsprechend den aktuellen Bedürfnissen weniger lebensängstlich hingeben. Und genau diese Angstlosigkeit ist es, die benötigt wird, um schneller in eine lebensnotwendige Interaktion (Kontakt) mit der Umwelt und damit zu einer verantwortungsvollen Tat zu kommen statt zu einer lähmenden gedanklichen und später auch physischen Selbstzerfleischung im Kopf (ebd. S. 110 ff, 117, 123 f.). Erst diese Qualität des Kontakts ermöglicht die lebenswichtige Assimilation von Umwelterfahrungen zum psychischen und physischen Wachstum des Organismus’.                  

Letztendlich ist es jedoch nach meiner Auffassung in besonderem Maße die sichere und korrigierende Beziehung – der Dialog – , die heilt, und nicht nur die Technik. Sie hilft lediglich, gestörte Beziehungsmuster auf allen Ebenen des Seins aufzuzeigen und bewusst zu machen. Dann aber muss sich der Therapeut auch in der Gestalttherapie gegenüber dem Klienten verantwortungsbewusst als eine korrigierende reale Beziehungsperson zur Verfügung stellen. Ein dysfunktionales Kontaktmuster resultiert aus einem dysfunktionalen Kontakt in der Beziehung zu ehemals existenziell wichtigen Bezugspersonen. Daher benötigt die Korrektur dieses Musters ebenfalls einen existenziellen Kontakt zu einer reflektierten und wohlmeinenden Bezugsperson, die in ihrem Selbst bereits deutlich ungehinderter dem idealen Verlauf des Kontaktzyklus’ folgt. Solange aber der Therapeut nicht mit sich selbst gut im Kontakt ist und einseitig als ein Ich mit Dingen der Objektwelt identifiziert ist, kann er auch nicht frei, offen und dadurch auch nicht wohlwollend bejahend heilsam im Kontakt mit seinen Klienten sein. Daher muss auch er sich entwickeln und wachsen. Und wachsen meint hierbei das Folgende:                                                                                 

In seinen ersten Lebensjahren bis etwa zum Ende der Adoleszenz entwickelt der Mensch durch zunehmende Identifikationen mit seinen ihn umgebenden Teilobjekten, dann ganzen Objekten (Bezugspersonen) und später auch Ideen, Handlungen und Gefühlen derselben eine grundlegende Identität als ein empfundenes kohärentes Ich. Dieses Ich mit einer gewissen inneren psychischen Struktur im Sinne einer Selbstbezogenheit, gewissen Offenheit, Selbstregulationsfähigkeit und Verteidigungsfähigkeit mittels Abwehrmechanismen gegen Infragestellung durch die Objektwelt bildet die existenzielle Notwendigkeit, um anschließend aus seiner neurotischen Einseitigkeit und Einengung wieder in eine De-Identifizierung mit dessen Inhalten zu gehen. Erst wenn das Ich abgegrenzt, autonom, frei von Interdependenzen, konsistent genug und sich so seiner selbst bewusst ist, kann es von sich selbst als Illusion einer Substanz ablassen und sich dem Prozess des Selbst als Funktion hingeben – der Ununterschiedenheit von Subjekt-Objekt, der Schöpferischen Indifferenz Friedlaenders (vgl. Blankertz & Doubrawa, S. 76 f.) oder einfach dem Nichts als Seinsgrund.                             

Der gestalttherapeutische Auftrag besteht meines Erachtens darin, den Menschen an den Stellen ihrer strukturell-rigiden Fixierungen im Kontaktzyklus, an denen sie aus Selbstschutz stehen bleiben mussten und aus welcher Position heraus sie ihre früheren Erfahrungen immer wieder reinszenieren, wieder zurück zum Fließen zu verhelfen. Bei Menschen hingegen, die sich erst gar nicht in die klare Identifizierung eines Ichs entwickeln konnten, geht es hingegen zunächst einmal grundlegend um den strukturellen Aufbau eines abgegrenzten, identifizierten wenngleich neurotischen Ichs. Geschieht der Prozess allerdings verfrüht, also von der gerade erst gewonnenen oder noch gar nicht erlangten Identifizierung zur De-Identifizierung, besteht die Gefahr einer Destrukturierung des Ichs bis hin zu einem psychotischen Zustand.




Literatur

Blankertz, S., Doubrawa, E. (2005). Lexikon der Gestalttherapie, S. 51–54, 76 f., 122–124, 137–145, Originalausgabe, Wuppertal: Peter Hammer Verlag

Ermann, M (2007). Psychosomatische Medizin und Psychotherapie,S. 53–63, 5. überarbeitete Aufl., Stuttgart: Kohlhammer

Frankl, V. E. (2005). Ärztliche Seelsorge, S. 17–23, 37–40, 66–78, 118–123, 11. überarbeitete Aufl., Wien: Deuticke

Fuhr, R.; Sreckovic, M.; Gremmler-Fuhr, M. (1999). Handbuch der Gestalttherapie, S. 446 f., Göttingen: Hogrefe-Verlag

Goodman, P., Hefferline, R. F., Perls, F. S. (2006). Gestalttherapie. Grundlagen der Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung, S. 21–33; 209–218, 319 f., 7. neu übersetzte Aufl., Klett-Cotta

Goodman, P., Hefferline, R. F., Perls, F. S. (2007). Zur Praxis der Wiederbelebung des Selbst, S. 200–205, 9. überarbeitete Aufl., Klett-Cotta

Kapfhammer, H. P. (2007). Zur Genese der Persönlichkeitsstörungen aus psychodynamischer Sicht. Psychiatrie & Psychotherapie, 3, 100–104

Müller, B. (2001). Ein kategoriales Modell gestalttherapeutischer Diagnostik. In R. Fuhr, M. Sreckovic, M. Gremmler-Fuhr (Hrsg.), Handbuch der Gestalttherapie, (S. 647–670). Göttingen: Hogrefe-Verlag Perls, F. (2007). Das Ich, der Hunger und die Aggression, S. 264–273, 7. Aufl., Klett-Cotta

Polster, M. und E. (2009). Gestalttherapie – Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie, S. 110–113, 117, 123 f.,128 , 3. Aufl., Wuppertal: Peter Hammer Verlag

Sartre, J. P. (2006). Das Sein und das Nichts, S. 941–943, 12. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag

Schopenhauer, A. (1986). Sämtliche Werke Bd. II. Parerga und Paralipomena, S. 338 f., 1. Aufl., Stuttgard-Frankfurt/Main: Suhrkamp Taschenbuch