Dienstag, 5. Juni 2012

Figur und Hintergrund

Andreas Mensch

Geschichtlicher Hintergrund aus der Gestaltpsychologie

Das Begriffspaar Figur-Hintergrund stammt ursprünglich aus der Gestalttheorie der Wahrnehmungspsychologie, die ihrerseits wieder Bestandteil der Allgemeinen Psychologie ist. Lore Perls promovierte als Psychologin in Gestalttheorie (vgl. Kriz, 2001, S. 189 f.) und war entsprechend mit den Gestaltgesetzen sehr vertraut und brachte diese als eine neben weiteren wichtigen Beeinflussungen wie aus der Existenzphilosophie oder dem Zen-Buddhismus in den psychoanalytischen Hintergrund ihres Mannes Fritz Perls zu einem neuen Therapieansatz ein. Um die Vielfältigkeit und Herkunft des Begriffspaares nachvollziehen zu können, muss im Folgenden etwas näher auf die Gestaltpsychologie eingegangen werden.

Die Gestaltpsychologie beschäftigt sich mit den Organisationsprozessen bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken. Sie überlegte, wie wir Sinneseindrücke von der Reizung des Sinnesorgans bis hin zur kognitiven Interpretation bearbeiten. Wichtigste Erkenntnis der visuellen Reizverarbeitung ist hierbei nach Meinung der Gestaltpsychologen die Gliederung der Eindrücke nach Figur und Hintergrund; das heißt, sie werden in eine gegenständliche Figur und einen dahinterliegenden Grund oder Hintergrund gegliedert, von welchem sich die Figur optisch abhebt (vgl. Zimbardo, 1995, S. 189 ff.). Man kann sich einen Stift (Figur) auf einem weißen Blatt Papier (Hintergrund) vorstellen. Es gibt in diesem Organisationsprozess allgemein die Tendenz, das Wahrgenommene als Figur vor einem Hintergrund zu sehen, auch wenn es diese Figur gar nicht gibt wie z.B. angedeutete aber unvollständige Ecken eines Dreiecks, die durch Kreise mit dreieckigen Einschnitten an allen drei Ecken im Auge des Betrachters ein Dreieck entstehen lassen, obwohl alles außer den Kreisen mit Einschnitten weiß ist. Die Organisation der Wahrnehmungseindrücke gehorcht demnach Organisationsgesetzen, die die realen äußeren Reize illusionär durch subjektive Erfahrungen sortieren. Solche Organisationsgesetze bzw. Gestaltgesetze, wie sie unter anderem von Wertheimer, Koffka oder Köhler postuliert wurden, sind zum Beispiel das der Geschlossenheit. Hiernach gibt es bei der Wahrnehmung die Tendenz zur Vervollständigung eigentlich unvollständiger Figuren wie unvollständige Kreise oder eine Mondsichel, die als ganzer runder Kreis gesehen werden. Bei der Gruppierung nimmt man einzelne und von einander eigentlich unabhängige Wahrnehmungsimpulse als eine zusammengehörende Gruppe von Figuren wahr. Unter die Tendenz der Gruppierung fallen die Gestaltgesetze der Nähe (Alles, was nahe zusammen auftritt, wird als zusammengehörig gesehen.), der Ähnlichkeit (Einander ähnliche Elemente werden als zusammengehörig gesehen.) oder des gemeinsamen Schicksals (Elemente mit gleicher Geschwindigkeit oder Richtung werden als zusammengehörig wahrgenommen.). Ein weiteres und sehr wichtiges Gestaltgesetz ist das der Guten Gestalt bzw. der Prägnanz. Es besagt, dass einmal gruppierte Sinnesreize nun durch Abgrenzung von anderen Sinnseindrücken in Formen organisiert werden. Gut oder prägnant werden dabei durch die Einfachheit, die Symmetrie und die Regelmäßigkeit von Elementen einer Wahrnehmungsgruppe bestimmt. Gute Gestalten (Figur-Hintergrundgebilde) sind demnach einfach, regelmäßig, symmetrisch und entsprechend vertraut. Schlechte Gestalten dagegen sind unsymmetrisch, kaum gruppierbar, kompliziert in ihrer Struktur und unregelmäßig. Gute Gestalten sind erinnerungsfähiger und vom visuellen System schneller und ökonomischer kodierbar. Ein regelmäßiges Sechseck wird demnach als „besser“ wahrgenommen als ein unregelmäßiges Fünfeck. Hieraus folgt, dass gute Gestalten letztlich zur besten und einfachsten Interpretation von Sinnesreizen führen. Ein hierbei noch zu erwähnendes Gestaltgesetz ist jenes der Integration von Raum und Zeit. Dieses besagt, dass man in der visuellen Wahrnehmung einzelne Teile in eine Beziehung zueinander und in einen umfassenden räumlichen Kontext organisiert. Einzelne Elemente werden dadurch nach einem größeren und umfassenderen Bezugsrahmen wahrgenommen und nicht nur als einzelnes Phänomen. An den rechten oberen Ecken aneinandergereihte und schräg aufsteigende Vierecke werden demnach als Treppe gesehen, wobei dieselbe Reihung liegend wie aneinandergehängte Drachen gesehen wird.

Gestaltbegriffe in der Psychoanalyse

Es ist nun deutlich geworden, dass viele Begriffe der Gestaltpsychologie direkt in die Gestalttherapie übernommen wurden, hierbei jedoch einen tiefenpsychologischen Kontext erhielten. Unabhängig von Perls versuchte Schultz–Hencke (1951) bereits 1933 als Vertreter der sog. Berliner Schule, die Gestaltgesetze in sein psychoanalytisches Theoriegebäude zu integrieren. Er vertrat die Ansicht, dass jeder Mensch aufgrund seines biografischen, politisch-ökonomischen und sozialen Hintergrundes neurotische Gestalten bzw. Neurosenstrukturen herausbildet, mit welchen er seine Umwelt wahrnimmt und auf sie zugeht (ebd. S. 130). Der entwicklungspsychologische Hintergrund eines Menschen ist danach durch natürliche Antriebserlebnisse wie Aggression, Einverleibung, Nahrungsaufnahme und –ausscheidung etc. und deren Hemmung durch die Umwelt gekennzeichnet. Wenn Grundantriebe bzw. erlebte Bedürfnisse des Kindes durch Versagung oder Überversorgung gehemmt werden, so werden daraus sog. Antriebssprengstücke (ebd. S. 122 f.). Antriebserlebnisse setzen sich danach aus unterschiedlichen Qualitäten wie z.B. Wahrnehmung, Vorstellungen, Emotionen oder Motorik zusammen und sind somit ein komplexes Gefüge bzw. eine Gestalt. Solche Antriebssprengstücke sind im Grunde gehemmte kindliche Bedürfnisse und ungefüllte Lücken unzureichender Befriedigung, die später weiterhin nach Füllung drängen. In sog. Versuchungs- oder Versagungssituationen (ebd. S. 92 ff., 128), welche denen der kindlichen Hemmung ähnlich sind, kommt es erneut zu dem Bedürfnis, die frühere Lücke zu füllen und den Antrieb auszuleben. Nach dieser Annahme konstelliert sich im Leben eines Menschen alles nach diesen Gestalten oder Antriebssprengstücken (ebd. S. 175). Die Ähnlichkeit mit den Ansichten der Gestalttherapie ist hierbei unverkennbar, auch wenn Schultz-Hencke weniger Wert auf den Begriff Figur als vielmehr auf den Begriff Hintergrund legte.

Figur und Hintergrund – die Gestalt in der Gestalttherapie

Perls, Hefferline und Goodman (2007) verweisen in ihrer neu übersetzten theoretischen Grundlegung deutlich auf den gestaltpsychologischen Hintergrund ihres Vokabulars und die hieraus resultierende Entlehnung vieler Begrifflichkeiten. Zudem stellen sie auch klar, dass sie mit dem Begriff Gestalt auch psychoanalytische und philosophische Ideen vereinbaren und implizieren (ebd. S. 12 f.). Die vielleicht simpelste Erklärung, die sie für Gestalt bzw. Figur-Hintergrund geben lautet: „Der Kontext, in dem ein Element erscheint, heißt in der Gestaltpsychologie Hintergrund, von dem sich die Figur abhebt.“ (ebd. S. 14). Der Mensch ist demzufolge im gesunden Sinne eigentlich ein Wesen, das beziehungs- bzw. kontaktbereit, erregbar und bewusst wahrnehmend mit seiner Umwelt verbunden ist und so, je nach innerer Bedürfnislage, Erfahrungen mit dieser assimiliert, was letztlich zum Wachstum des Organismus führt. Aus dem bedürfnislosen Hintergrund treten in der Entwicklungsgeschichte des Menschen durch Erregung des Organismus stetig Figuren (Bedürfnisse, Emotionen, Wahrnehmungen etc.) heraus, die nach Befriedigung durch die Umwelt bzw. nach Schließung drängen (ebd. S. 16 f.). Es taucht im Organismus also ein Mangel (z.B. Hunger oder andere Triebbedürfnisse) auf, der durch Assimilation der Umwelt (Nahrung etc.) ausgeglichen werden soll. Wenn die Figur aus dem Hintergrund heraus tritt, bilden beide eine Gestalt, die von innerer Spannung (psychisch/ körperlich) gekennzeichnet ist. Um diese Spannung bzw. Angst, durch einen Mangel nicht mehr existieren zu können, abzubauen, muss der Organismus mit seiner Umwelt gezielt, bewusst und gewahr in Kontakt treten, um aus dieser das „Fehlende“ zu assimilieren. Findet eine ausreichende Befriedigung statt, wird die Spannung (das Bedürfnis) wieder abgebaut und die Figur sinkt wieder in den diffusen Hintergrund und die Gestalt ist geschlossen (vgl. Kriz, S. 193 f.). Alle organismischen Prozesse wie Wahrnehmung, Fühlen und Denken sind im Kontakt mit der Umwelt zu einem selbstvergessenen Selbst vereinheitlicht, das nur noch im Hier und Jetzt gebündelt ist. Welches Element man wie zur Bedürfnisbefriedigung letztlich aus der Umwelt wählt, hängt von dem biografischen Hintergrund, also der persönlichen Entwicklungsgeschichte ab. Bleiben in der individuellen Entwicklungsgeschichte Bedürfnisse unbefriedigt, also normal aufeinander folgende Kontaktzyklen zur organismischen Selbstregulation unabgeschlossen, so kommt es zur Anhäufung unerledigter Situationen (Frustrationen) und Gestalten im biografischen Hintergrund, die weiterhin nach Schließung drängen und spätere Kontaktzyklen und Gestaltbildungen immer beeinflussen. Es werden sozusagen kleine Traumata durch falsche, unzureichende oder fehlende Bedürfnisbefriedigungen zugrunde gelegt, die in diesen früheren Situationen und in der kindlichen Abhängigkeit die reale Existenz bedrohten, dies jedoch heute nicht mehr tun. Das heißt im Klartext: Frühere offene Gestalten drängen sich gegenüber neuen Gestalten immer vor und stören daher den aktuellen freien bewussten Kontakt mit der Umwelt und färben ihn mit früheren unbefriedigten Bedürfnissen ein. Alte Figur-Grundkonstellationen werden quasi eingefroren und behalten ihre Spannung eines unbefriedigten Bedürfnisses. Diese Spannung wiederum ist die unbewusste Angst, abgelehnt zu werden, verhungern zu müssen etc. und hierdurch letztlich zu sterben. Der Hintergrund dagegen ist weitestgehend angstlose Spannungslosigkeit wie bei vollständig entladenen Platten bzw. Polen eines elektrischen Kondensators. Stark offene und diffuse Gestalten kommen bei diesem imaginären Bild des Kondensators einer diffusen psychischen inneren Zerrissenheit und einer erheblich mangelnden Spannung gleich. So eine mangelnde Spannung gibt wenig Identitätsgefühl und folglich auch sehr wenig Selbstbewusstsein. Sie kommt in ihrer diffusen Angst der Psychose oder geringen Ich-Strukturierung gleich. Das Gegenstück hierzu bildet die Neurose, die dagegen durch spezifische Ängste und damit durch eine klare Spannung gekennzeichnet ist, die jedoch keine Veränderung der verfestigten Identität zulässt. Man könnte es auch wie folgt ausdrücken: Bei diffusen und noch völlig offenen Gestalten herrscht ein sehr schwaches und die Platten kaum anziehendes elektromagnetisches Feld, da die Kondensatorplatten noch weit voneinander entfernt positioniert sind. Man braucht zur Entladung, Schließung und Prägnanz dieser sehr offenen Gestalten bzw. Identitätsfragmente viel Spannung, Anstoß oder Provokation von Außen. Dagegen brauchen prägnantere Gestalten, die nur noch geringfügig geöffnet sind und sich kurz vor der Schließung befinden, lediglich eine minimale Spannung bzw. einen leichten Anstoß von Außen, um sich zu entladen. In diesem Fall sind die Kondensatorplatten als stark geladene Pole neurotisch sehr dicht aneinander und bei leichter Stimulation jederzeit zur blitzartigen Entladung als Lichtbogen bereit. Die Voraussetzung für neue Erfahrungen im Leben bildet die vollständige Schließung einer Gestalt, damit sie dann ohne weitere störende Spannung einer neuen Gestalt weichen und diese ihren Platz einnehmen kann. Erst nach vollständiger Assimilation und Entladung, also Gestaltschließung, kann eine neue Figur aus dem Hintergrund treten und die alte Gestalt langsam ablösen. Nun kann der Organismus ungehindert assimilieren sowie wachsen und letztlich sein Überleben sichern (Goodman, Hefferline, Perls, 2006, S. 25, 268 ff.).

Literatur

Goodman, P., Hefferline, R. F., Perls, F. S. (2006). Gestalttherapie. Grundlagen der Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung, S. 25, 268-271, 7. neu übersetzte Aufl., Klett-Cotta

Goodman, P., Hefferline, R. F., Perls, F. S. (2007). Gestalttherapie. Zur Praxis der Wiederbelebung des Selbst, S. 12 f., 14, 16 f., 9. neu übersetzte Aufl., Klett-Cotta

Kriz, J. (2001). Grundkonzepte der Psychotherapie, S. 189 f., 193 f., 5. überarbeitete Aufl., Weinheim: Beltz

Schultz – Hencke, H. (1951). Lehrbuch der Analytischen Psychotherapie, S. 92-97, 122 f., 128, 130, 175, 2. überarbeitete Aufl., Stuttgart: Georg Thieme

Zimbardo, P. G. (1995). Psychologie. In S. Hoppe-Graf & B. Keller B. (Hrsg.), Psychologie – Wahrnehmung, S. 189-190, 6. überarbeitete Aufl., Augsburg: Weltbild (Original erschienen 1988)