Sonntag, 1. März 2015

Vom Ich zum Ich bin allein

Andreas Mensch

Das existenzphilosophische Für-sich ist das Engagiert-sein im Entwurf, das In-Situation-sein. Psychoanalytisch könnte es auch als das Selbst im Zustand der Identifikation als Ich (einen vorübergehend durch ein Bedürfnis besetzten Anteil des Selbst) bezeichnet werden. Gestalttherapeutisch ist es das Selbst als Ich im Kontakt mit der Umwelt. Es ist im Moment des Kontaktes, des Engagiert-seins im Entwurf (in ein sinnvolles und zielgerichtetes ganzheitliches Handeln mit motorischen Anteilen, Triebanteilen, Emotionen und Kognitionen), nicht durch das Subjekt selbst reflektierbar und verleiht ihm dadurch das persönliche Erleben des Eins-seins als ein bestimmtes identifizierbares einzigartiges Sein.

Je konsistenter und kohärenter das (psychoanalytische) Selbst ist, desto mehr kann das Ich in Beziehungen (im Kontakt) vom Selbst ablassen (vom Bedürfnis, das An-sich-für-sich zu sein) und als identitätsloses Für-sich seine Selbstlosigkeit aushalten. Mit dieser Fähigkeit, sich selbst als Entwurf und zugleich Entwerfenden zu erkennen und auszuhalten, geht die Fähigkeit einher, allein sein zu können. Ein kohärentes Selbst ist also ein komplexer, in sich schlüssiger Seinsentwurf. Erst dieses Erleben eines Individuums als in sich konsistentes, kohärentes und schlüssiges Selbst (komplexer Entwurf mit guten wie negativen Entwurfanteilen bzw. Repräsentanzen) befähigt das Subjekt sozusagen – geübt, sich selbst als komplex und vielfältig wahrzunehmen –, von sich selbst als physisch wie psychisch statisch dinghaftes Etwas abzulassen und sich dadurch von der Illusion des An-sich-für-sich zu befreien. Das ermöglicht eine höhere seelische Beweglichkeit als Für-sich als sogenannte seelisch-organismische Funktion ohne Substanz. In dieser Beweglichkeit des Für-sich (oder gestalttherapeutischen Selbst bzw. psychoanalytischen Ich) ist erst ein psychisches wie physisches Wachstum im Sinne biologischer Strebungen ohne hemmende Blockaden möglich.

Doch wie gesagt: Die Voraussetzung für derlei seelische Beweglichkeit ist die vorherige Selbsterkenntnis, das Selbsterleben als zunächst imaginiertes dinghaftes, komplexes, integriertes und vielschichtiges Selbst mit einem Reichtum an integrierten fassettenreichen und teilweise auch widersprüchlichen Selbst- und Objektrepräsentanzen, innerhalb derer man seine seelische Beweglichkeit durch wechselnde aber nicht voneinander abgespaltene Besetzungen (wie Inseln mit festen Brückenverbindungen untereinander) übt und die Erfahrung macht, dass man ganzheitlich ist, in seiner Vielfalt samt aller aufkeimender Triebimpulse (vgl. Winnicott, 2006, S. 42) gespiegelt und angenommen wird, also von der Objektwelt des Subjektes positiv in seiner Komplexität auch widersprüchlicher Repräsentanzen gespiegelt wird. Das psychische Ich muss zunächst in seiner integrierenden und organisierenden Funktion mit entsprechender stützender Umweltfürsorge erwachsen, um anschließend durch spiegelnde, therapeutische Unterstützung aus seinen Identifizierungen, die nichts anderes als Fixierungen bzw. offene Gestalten mit den entsprechenden fixierten Kontaktfunktionen sind, befreit zu werden. Das Spiegeln kann jedoch nicht einfach durch ein Objekt geschehen, mit dem das Subjekt in unmittelbarem Kontakt/ Beziehung steht, denn im Moment der Beziehung sind beide Subjekte miteinander im Entwurf engagiert und es kann keine Reflexion des Objektes über sich selbst in diesem Engagiert-sein erfolgen. Es muss also durch einen sogenannten Dritten eine Reflexion des Engagiert-seins beider in Beziehung befindlicher Subjekte stattfinden. Erst dann gewinnt das Subjekt durch die Reflexion des Dritten ein objektives Bild seines Seins im Entwurf. Ein guter Psychotherapeut vereint in sich genau diese beiden Qualitäten nämlich einerseits die des Engagiert-seins im Entwurf (also in der Beziehung) zum Patienten und andererseits die des Einnehmens der Rolle des Dritten als objektiver Beobachter. Der Therapeut muss also die Fähigkeit haben, sich abwechselnd voll und ganz in die Beziehung, den Kontakt, mit seinem Gegenüber hineinzubegeben und dann wieder als Beobachter der Szene und seiner Selbst aus dem Kontakt hinauszugehen, ohne jedoch den Kontakt dabei ganz zu verlieren, sondern jederzeit wieder in diesen eintauchen zu können. Ein Therapeut muss also, um diese Beweglichkeit in sich zu bewerkstelligen zu können, selbst über die oben beschriebene seelische Beweglichkeit auf der Grundlage eines komplexen und kohärenten Selbst, welches eine wechselnde Besetzung seiner Anteile durch die Identifizierung des Ichs mit diesen ermöglicht, verfügen.

Das Sein im Für-sich setzt die Fähigkeit voraus, sich als von den Objekten getrenntes Individuum zu erleben. Erst dieses Erleben in der Getrenntheit , jedoch ohne das Gefühl der Verlassenheit, Vereinsamung oder Nichtexistenz der eigenen Person ermöglicht echte Beziehung, echten Kontakt (als tiefgreifende, ganzheitliche, selbstlose Kontaktaufnahme als ein momentanes Eins-sein mit dem Objekt). Nach Winnicott (S. 41) entwickelt sich jedoch diese Fähigkeit zum Allein-sein und des Erlebens als getrenntes Subjekt erst allmählich.

Er beschreibt diese Entwicklung von der (paranoiden) Desintegration des ererbten Potenzials (Es-Impulse, also Triebimpulse, organismische Triebstrebungen) des Ichs hin zum Ich, welches die organismischen Impulse unter geeigneten Bedingungen zu einer Einheit zu integrieren und zu organisieren beginnt. Aus dem Ich entwickelt sich ein Grunderleben als seiendes Ich bin. Und schließlich entwickelt sich hieraus das Ich bin allein als getrenntes komplexes Individuum.

Im Alleinsein ist das Individuum nicht auf die Umwelt bezogen agierend oder reagierend, sondern entspanntes, desintegriertes Subjekt, in welchem die aufsteigenden organismischen Impulse als persönlich real erlebt werden, die dann von einem gegenwärtigen Objekt spiegelnd aufgegriffen und so in das Selbst des Subjektes integriert werden. Das Subjekt muss also allein sein und sich dennoch sicher in der Gegenwart eines versorgenden Objektes befinden. Das Subjekt muss sich selbst als aktiv agierend sowie die Welt kreierend und die Umwelt hingegen auf es selbst reagierend erleben können, ohne dass das gegenwärtige Objekt dem Subjekt das Erleben des Agierens durch verschmelzende Überprotektivität entreißt. Das Subjekt benötigt die anfängliche Identifikation des behütenden schützenden Objektes (Mutter) mit ihm, wodurch die Umwelt derart stimmig auf die Bedürfnisse des Subjektes reagiert, als käme die Befriedigung aus dem Subjekt selbst heraus, ohne zu bemerken, dass es die Unterstützung vom Objekt erhält (mit dem es psychisch noch verschmolzen ist). Dadurch bildet sich ein erstes Ich-Erleben mit Omnipotenzerleben aus. Im weiteren Entwicklungsverlauf der folgenden Lebensmonate ist die oben beschriebene Haltung der Gegenwärtigkeit und Präsenz des Objektes beim Subjekt entscheidend, jedoch ohne dem Subjekt im Zustand seines Omnipotenzerlebens jedes Bedürfnis bereits sofort zu erfüllen, ohne, dass das Subjekt hierfür ein Signal gegeben hat, geben konnte, geben musste. Erst die Notwendigkeit des Subjekts, ein Signal für sein entsprechendes Bedürfnis anzuzeigen (dazu muss das Objekt gegenwärtig sein, ohne mit dem Subjekt identifiziert und noch psychisch verschmolzen zu sein), ermöglich ihm einerseits die Ausbildung der Fähigkeit des Bedürfnisaufschubs (minimale Frustration ist hierzu bzgl. der Bedürfnisbefriedigung in diesem Stadium notwendig) und andererseits die Fähigkeit, sich als Ich bin zu erfahren. Und erst hierauf kann es aufgrund verinnerlichter positiver versorgender Eigenschaften des versorgenden Objekts auch über eine gewisse Zeitspanne ohne das sofort versorgende Objekt allein sein. Sind alle diese Bedingungen gegeben, entwickelt sich nach Winnicott höchst wahrscheinlich ein komplexes, getrenntes und zum Allein-sein befähigtes Individuum, welches sich selbst als freies und nicht als fixiertes bzw. mit einer Selbstrepräsentanz oder gar nur Teilselbstrepräsentanz identifiziertes Für-sich annehmen kann.

Winnicott, D. W. (2006). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, S. 41 f, unveränderte Aufl. der dt. Ausg. Von 1974, Gießen: Psychosozialverlag