Mittwoch, 4. März 2009

Über die Romantik

Andreas Mensch
Der Begriff Romantik wird allzu oft in allerlei Situationen gebraucht und scheint daher allgemein sehr undifferenziert zu sein. Hier soll nun wieder aus Sicht der Ontologischen Psychologie erörtert werden, was Romantik eigentlich ist. Versetzen wir uns zunächst in einige typische Situationen, die in der Regel als romantisch bezeichnet werden können. Stellen wir uns zum Beispiel vor bei Sonnenuntergang auf einem Berggipfel zu sitzen und dabei in ein weitgestrecktes schönes Tal hinabzuschauen. Oder wir machen einen einsamen Herbstspaziergang bei leichtem Nebel auf laubbedeckten Waldwegen. Vielleicht genießen wir auch den nächtlichen Blick in den klaren Sternenhimmel, wobei wir uns als klein und unbedeutend empfinden angesichts einer überragenden transzendenten Macht. Oder aber wir verkriechen uns angesichts bedrohlich tobender Naturgewalten eines Sommergewitters in den Schutz eines sicheren und geschützten Lagers. Zu etwas Besonderem wird dieses Empfinden der Romantik natürlich erst so richtig durch die reale oder fantasierte Gegenwart eines anderen Menschen, zu dem wir zwar eine unwirkliche aber doch sehr nahe Beziehung zu haben scheinen. Es braucht zur Romantik also eine Art vertrauten Zeugen für das eigene Heldendasein. Wie ist nun dieses Empfinden zu beschreiben? Zunächst birgt es in sich eine geheimnisvolle Atmosphäre und scheint daher etwas realitätsfern zu sein. Es fühlt sich spannend und vielversprechend an. Man könnte es auch als eine Art diffuse Erwartungshaltung oder unbestimmte Vorfreude bezogen auf ein tieferes aber unklares Bedürfnis beschreiben. Allgemein können wir feststellen, dass es sich sehr angenehm, aufregend, befriedigend und glücklich anfühlt und einem innere Wärme und sichere Behaglichkeit bereitet. Was ist es aber nun, was uns dieses Gefühl vermittelt? Betrachten wir noch einmal den Kontext romantischer Situationen genauer, so lässt sich erkennen, dass sie etwas Düsteres, Unklares und teilweise Unbestimmbares in sich bergen. Allen wohnt ein Zauber des Mystischen inne, welches fernab der gewohnten Realität voller sozialer Normen und Erwartungen und damit auch fern jeder Beschränkung zu liegen scheint. Es ist die objektleere und von uns spürbar abgetrennte Umwelt, die uns unser gewöhnliches Sein – unseren Seinsentwurf – nicht in herkömmlicher Weise spiegelt, sondern uns selbst zum alleinigen das Sein bestimmenden Wesen macht. Diese mystische Atmosphäre stellt uns also durch das Fehlen einer gewohnheitsmäßig spiegelnden Umwelt vor eine Leere an Seinsmöglichkeiten. Da man nun angesichts der objektleeren Umwelt nicht mehr durch definierte Objekte, die einen mit ihrem Bezug auf einen in seinem Seinsentwurf spiegeln, auf den bisherigen Seinsentwurf fixiert ist, bricht plötzlich eine deutlich spürbare existenzielle Befreiung auf. Ohne den früheren Bezug der Objektwelt auf mich und meinen Entwurf stehen mir mit einem Mal ganz neue und bisher nicht ausgelebte omnipotente Entwurfmöglichkeiten offen. Diese Möglichkeiten eines neuen und von Anzweiflung befreiten Selbstentwurfs werfen uns damit auf uns selbst zurück. Bevor aber die objektleere Umwelt als Befreiung vom einseitigen Selbstentwurf empfunden wird, löst sie zunächst eine tiefe Verunsicherung und die existenzielle Angst des Nichtseins aus. Dann passiert sofort und unmerklich der typisch menschliche ,Psychotrick’: Dieser Selbstentwurf wird dann sofort gefüllt mit allen zuvor unterdrückten narzisstischen Omnipotenzwünschen, welche maximale Anerkennung und Seinsgefühl vermittelnde Zuwendung durch eine fantasierte Objektumwelt versprechen. Diese die nackte Existenz aufzeigenden Umweltbedingungen begünstigen sozusagen den schizoid und sekundär-narzisstisch anmutenden Rückzug in das fantasierte seelische Innenleben (vgl. FAIRBAIRN, 2007), in welchem die Objekte, welche uns durch ihr Spiegeln in unserem Entwurf für gewöhnlich festlegen, noch völlig fehlen und durch imaginierte Objekte ersetzt werden, die den omnipotenten Entwurf unbegrenzt anerkennen. In der spiegellosen Nacht werden wir von Festlegung und Begrenztheit unserer Entwürfe befreit und es stehen uns mit einem Mal alle ungelebten Möglichkeiten einer Selbstwahl offen. In dieser Erwartung hoffen wir auf maximales Seinsempfinden und so gestatten wir uns in dieser kleinen geschützten Welt diejenigen Selbstentwürfe, die wir uns aus Angst vor Anzweiflung sonst nie zu wählen imstande sehen würden, da wir uns für gewöhnlich zu minderwertig und klein für sie empfinden. Hier im geschützten Rahmen einer unwirklichen, fantasierten und romantischen Welt können wir groß und mutig sein und müssen nicht die reale Verantwortung für die Folgen unserer Entwürfe übernehmen, da schließlich keine möglicherweise versagenden realen Objekte existieren. Im Falle einer drohenden existenziellen Katastrophe, die die bisherigen realen Gegebenheiten völlig zu verändern vermag, verliert mein bisheriger und unter Begrenzung leidender Seinsentwurf an Bedeutung und ermöglicht mir eine unter diesen völlig neuen Gegebenheiten omnipotente Selbsterfindung. Diese neue Selbsterfindung ist nur möglich, wenn durch die neuen Umstände und ihre existenzielle Tiefgründigkeit der bisherige Selbstentwurf gänzlich infrage gestellt und damit unwichtig wird. Der unliebsame und mit viel Scham besetzte alte Entwurf kann so in Anbetracht der wirklich existenziell bedrohlichen Situation leicht abgeschüttelt werden. Es ist, als befreie mich eine höhere Transzendenz von der Verantwortung der Folgen der bisherigen Selbstwahl, so, als könnte man sein Leben noch einmal bei Null beginnen. Alles scheint in solchen Momenten möglich und realisierbar zu sein. Die Karten sind nun neu gemischt. Und genau diese Unbestimmtheit der verschwommenen Option alles möglich machen zu können ist die Romantik. Sie ist die tief im Menschen verwurzelte Sehnsucht nach Omnipotenz, in welcher man niemals in seinem Entwurf festgelegt ist und scheinbar jederzeit alle Möglichkeiten und Freiheiten zu einer anderen Seinswahl offen hat. Und auch hinter dem romantischen Schwärmen und Idealisieren des Rückzugs in die Natur und ähnlichem verbirgt sich wieder der Versuch sich von einschränkenden, infrage stellenden und einengenden Seinsentwürfen, die Minderwertigkeits- und Nichtseinsempfinden verursachen, zu entledigen. Auch dies stellt einen sekundär-narzisstischen Rückzug schizoider Art dar und soll durch das Ersetzen der belebten und einseitig spiegelnden Objekte der sozialen Umwelt durch idealisierte unbelebte Objekte der Natur das Minderwertigkeitsempfinden mittels eines fantasierten Größenselbstentwurfs kompensieren. Die unbelebte Natur kann meinen narzisstisch übersteigerten Entwurf nicht infrage stellen; die belebte soziale Umwelt hingegen schon. Letztlich könnte man es eine unbewusste Regulierung meiner mich umgebenden und Sein machenden sozialen Umwelt nennen, bei der ich die Dosis sozialen Bezuges auf mich gezielt selbst reduziere. Aber wie so oft liegt das gesunde Maß in der Mitte zwischen offener Begegnung mit meinen Mitmenschen einerseits und Rückzug zur Selbstreflexion sowie inneren Einkehr in die Ruhe andererseits.
Vielleicht wird hierdurch auch etwas verständlicher, weshalb die meisten Suizide im Frühling und nicht, wie zu erwarten wäre, im Herbst verübt werden. Im grauer und dunkler werdenden Herbst ziehen sich die realen und den unliebsamen Entwurf spiegelnden Objekte zurück in die schützende und wärmende Behausung. Die Masse der Menschen fehlt immer mehr auf den Straßen und im öffentlichen Leben. Dies ist die Zeit, in der die Träumer und Introvertierten die sozial entleerte Umwelt betreten und sie mit ihren fantasierten Spiegelungen füllen. Nur jetzt können sie sich in der unwirklichen und teilweise lebensfeindlichen Umwelt ihr Sein machendes Publikum imaginieren und sich zugleich vor kritischen Blicken schützen. Wird dagegen im Frühling die Welt wieder lebensfreundlicher und lockt die Masse der Menschen in die Umwelt hinaus, so füllt sich der ,Saal des Bühnenstücks’ wieder mit realen und durchaus kritischen Zuschauern, die den Seinsentwurf bewerten und nichten können. Wenn es die Masse hinaus in die nun mit selbst zu verantwortenden Entwürfen zieht, drängt es die Schwärmer und Träumer vor Angst, sich im Angesicht des anderen frei und eigenverantwortlich wählen zu müssen, wieder ins Innere der Seele und in die soziale Isolation der vor Anzweiflung schützenden Behausungen. Unter der fantasierten Omnipotenz ohne soziale Bezugspersonen schlummert eine Grundangst vor Einsamkeit, die ihre Wurzeln oft in gestörten Beziehungen zu frühesten Bezugspersonen hat. Im tiefen Grundempfinden dieser Isolation, der Sinnlosigkeit des Lebens, der Vereinzelung und der Kluft zwischen Bedürfnis und Realität wird oft nur noch die Vorwegnahme des irgendwann ohnehin unweigerlich eintretenden Todes als Lösung für die als quälend empfundene Nichtseinsangst gesehen.


Literatur

Fairbairn, W. R. D. (2007). Das Selbst und die inneren Objektbeziehungen, S. 124 f., Gießen: Psychosozialverlag