Freitag, 26. September 2008

Wir sind das, was uns umgibt

Andreas Mensch
Wer kennt das nicht? Wir verabschieden uns von Menschen, die wir lieb gewonnen und mit denen wir viele private Dinge geteilt haben. Wir trauern der Vergangenheit und den gemeinsamen Erlebnissen hinterher. Wir erinnern uns nicht nur an die Person, sondern auch an die Orte, an denen wir zusammen die Zeit verbrachten. An eine andere Zukunftsperspektive, eine andere Möglichkeit, sein Leben auch ohne diese Menschen und ohne die zu ihnen gehörenden Orte zu leben, kann man in der Aktualität solcher Trennungen nur schlechterdings denken. Das klingt zwar zunächst sehr melancholisch, hat aber auch eine ganz andere Seite, nämlich die romantische. Wie kann man dieses schmerzliche Phänomen aus ontologisch-psychologischer Sichtweise beleuchten? Hierzu möchte ich kurz ein ganz eigenes Beispiel aus meinem Leben einbringen. Seit ich das vertraute Fleckchen Erde in der Niederlausitz, auf dem ich aufgewachsen bin und den größten Teil meiner Kindheit und Jugend verbrachte, verlies, musste ich immer wieder feststellen, in welchem für mich früher unvorstellbaren Ausmaß sich der alles verschlingende Braunkohletagebau in den einst festen Boden meiner Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend unaufhaltsam hineinfrisst. Monat für Monat werden weitere Hektar Abraumgebiet erschlossen, weggebaggert und dadurch landschaftlich grundlegend verändert. Inzwischen sind viele ehemals vertraute Gegenden kaum mehr als das erkennbar, was sie einst für mich bedeuteten. Altbekannte Landstriche wie Wälder, in denen ich noch vor Jahren Pilze sammeln konnte, verschwinden regelrecht in einem Baggerloch und werden zu Mondlandschaften transformiert. In der Folge fahre ich immer wieder mit einem sehr schmerzlichen und diffusen Gefühl einer Mischung aus Trauer und Wut über den Diebstahl meiner mir einst so vertrauten Vergangenheit in diese Landschaft zu Besuch. Über diese Trauer musste ich während meiner Reisen immer wieder sehr lange nachdenken, da sie mich mit zunehmender räumlicher Nähe zur weichenden Vertrautheit immer härter traf und ich sie irgendwann rein gedanklich zu begreifen versuchte, um endlich etwas emotional distanzierter zu werden. Hier nun das Ergebnis meiner Überlegungen.
Was ist denn eigentlich diese diffuse Trauer? Sie ist anscheinend der schmerzliche Verlust eines großen Stückes Identität! Meine alte Umgebung hatte durch meine Erlebnisse in und mit ihr einen eindeutigen Verweis auf mich und damit eine sinnvolle Bedeutung erlangt. Die Wälder, Seen und Flüsse waren Spiegel meiner Erfahrungen und damit eine Art Bühnenkulisse meines Bühnenstücks dieser Tage. Sie spiegelten mir zusammen mit den darin stattgefundenen sozialen Beziehungen einen ganz bestimmten Seinsentwurf meiner Kindheit und Jugend. Bereits der Anblick, der Geruch oder die Geräusche aus meiner Heimat lassen bis heute eine Fülle an Erinnerungen an meinen einstigen Seinsentwurf aufsteigen und zeigen, wie die früheren Erfahrungen mit scheinbar bedeutungslosen Sinneseindrücken verknüpft und codiert abgespeichert wurden. Mein früherer Entwurf war solange unhinterfragt real, wie ihn mir die dazugehörige und scheinbar auf mich bezogene Spiegelkulisse reflektieren, und bestätigen konnte. Mit jedem Bruchstück der Spiegelung, welches durch eine Baggerschaufel verschwand und noch verschwindet, geht ein Stück meines früheren Seinsentwurfs verloren. Der Bezug zu mir reißt dadurch ab und ein Teil meines Entwurfs – meines Seins – geht unwiderruflich dahin und stirbt. Und genau in dem Unwiderruflichen liegt die Tragik. Egal, was einmal aus der Baggerlandschaft werden wird. Egal, ob es einmal ein wunderschönes Landschaftsbild ergeben wird. Es wird nie wieder dieselbe Bezogenheit durch frühere Erfahrungen auf mich haben. Es wird eine ganz neue und andere Bühnenkulisse geschaffen, auf der ich nicht mehr mein Stück spiele, sondern andere, die mit dem Wandel der Kulisse aufwachsen. Derzeit legt sich mir die Ödnis einer sandigen und steppenartigen Haldenlandschaft vor meine Füße, die so scheinbar überhaupt gar keinen Bezug auf etwas Menschliches zu haben scheint. Der einzige Trost in dieser ontologischen Feststellung liegt wieder einmal in der Erkenntnis, dass ich alte Seinsentwürfe rein theoretisch loslassen muss, um neuen Platz zu machen. Die Angst, es sei nun alles verloren, stammt aus dem neurotischen Sicherheitsdenken, dass alles bleiben muss wie es ist oder war. Fakt ist jedoch, dass jeder Entwurf frei wählbar ist und den früheren komplett in seiner Seinsfülle ersetzen kann. Oder etwa nicht? Eigentlich darf man sie noch nicht einmal miteinander vergleichen. Potenziell ist jede Wahl im Leben zunächst gleichwertig. Man muss sich also nur den mutigen Ruck geben, mit allen nicht kalkulierbaren Unsicherheiten und Risiken, die stets auch eine gleichwertige Chance enthalten, neu zu wählen. Und gerade in dem ,nur’ liegt das Problem. Es lässt sich von und vor mir sehr leicht sagen, doch tue ich mich gerade in der Umsetzung dieser Feststellung umso schwerer. Eine Wahl ist eben nicht nur eine rein geistige Angelegenheit. Psychologisch ist sie auch eine emotionale und durch viele unbewusste Faktoren und Vorerfahrungen beeinflusste Angelegenheit.

Mittwoch, 20. August 2008

Der Baum der Identitäten - Ein Gleichnis



Im Grunde genommen kann man sich die Ontogenese des Menschen anhand eines stetig wachsenden und dabei der Sonne entgegenstrebenden Baumes vorstellen, der in seinem Wachstum ständig neue Umweltanforderungen bewältigen und hierzu seine Umwelt assimilieren muss, um in seiner Anpassung an die Lebensbedingungen existieren zu können. Dabei steht die Sonnenstrahlung metaphorisch für das einfallende Licht der Bestätigung, der Zuwendung und der Versorgung durch die Umwelt. Sie ist sozusagen die Lebensenergie. Das Licht entspricht der Vermittlung des Gefühls zu sein und zu existieren. Die Sonne gibt Seinsempfinden, Wärme und sorgt für die essentiellen Bedürfnisbefriedigungen, die das Überleben sowohl des Baumes als auch des Menschen sicherstellen.
Bis zur ersten Zurückweisung essentieller Grundbedürfnisse wächst nun der Baum als einheitlicher und kräftiger Stamm empor und drängt nach seiner biologischen Erfüllung, nach Existenz und Überleben. Dies ist der frühkindliche, narzisstische und omnipotente Stamm der maximalen Seinsempfindung ohne jegliche Anzweiflung des Seins samt seiner Triebstrebungen. Er ist der kräftige Stamm, in dem noch alle Selbstanteile ungeteilt, vereint und miteinander versöhnt emportreiben dürfen ohne von der Umwelt sanktioniert und zurückgewiesen zu werden. Bald kommt es aber zu wesentlichen Veränderungen. Auf derjenigen Wachstumshöhe, auf welcher dieses primär-narzisstische Omnipotenzempfinden zwangsläufig durch ein Hindernis aus der ,rauen’ Umwelt versagt wird und der ursprünglich allumfassende Selbstentwurf, der noch keiner existenziellen Beeinflussung und damit Formung unterlag, einer Anpassung an die erwünschte Umwelt bedarf, bilden sich die ersten Äste der einzelnen angepassten Seinsentwürfe heraus. Das Hindernis der Umwelt wird genau nach dessen Bedingungen umgangen, um mit dieser Abweichung das bisherige maximale Seinsempfinden erneut gespiegelt zu bekommen. In dieser Anpassung der Introjektion des Hindernisses formen sich die nun erstmals getrennt wachsenden Äste nach dem Bild des Hindernisses, um unbewusst aus dessen Selbstentwurf heraus positiv gespiegelt zu werden und nicht als Widerstand negativ aufzufallen und hierdurch an Zuwendung einzubüßen. Aus der bedürfnislosen primär-narzisstischen ,Ursuppe’ der psychischen Omnipotenz und des uneingeschränkten Glücks entsteht durch ein organismisches Defizit – eine vitale Triebstrebung wie Hunger – eine innere Bedürfnisspannung, die nur durch ein äußeres Objekt befriedigt werden kann. Es taucht sozusagen ein auf die Umwelt gerichtetes Streben nach dem versorgenden Objekt auf. Dabei wird psychisch erstmalig eine an die Bedingungen des versorgenden Objekts angepasste und gebahnte Triebstrebung herausgebildet, welche auch zukünftige organismische Defizite ausgleichen soll. Gleichzeitig werden dabei aber die vom Objekt unerwünschten Bestrebungen zurückgedrängt und zukünftig intrapsychisch durch das angepasste Introjekt ferngehalten. Damit bekommt jedes Introjekt sowohl eine unerwünschte unterdrückte als auch eine erwünschte unterdrückende Seite (Täter/Opfer). Diese Art und Weise des ersten regelmäßigen aber ambivalenten Objektkontakts zur primären Bedürfnisbefriedigung bildet das grundlegende innerseelische und ebenso ambivalente Primärintrojekt. Und es hängt von der Festigung des grundlegenden und unbewussten organismischen Empfindens des Gut-seins im primären Entwicklungsstadium des ungeteilten Baumstammes sowohl durch einen zugrundeliegenden ,nährstoffreichen Boden’ als auch durch genügend Sonnenstrahlung ab, inwieweit das nun ambivalente Primärobjekt in Gut und Böse gespalten – der Baumstamm also aufgegabelt und verästelt – werden muss. Kann sich der Mensch durch bedingungslose Akzeptanz seitens seiner Umwelt zunächst in allen seinen Strebungen ohne ständige existenzielle Bedrohung angstfrei annehmen, dann kann er auch seine von der Umwelt ungeliebten Selbstanteile als weniger gefährlich an sich wahrnehmen und muss so nicht rigoros zwischen erwünschten und unerwünschten Selbstanteilen spalten. Dies führt letztlich zu einer grundlegenden innerseelischen Stabilität oder eben auch zu ihrem Gegenteil.
Der Baum wächst jetzt aber nicht einfach nur noch mit einem einzigen Ast um das Hindernis herum. Er treibt vielmehr die unterdrückte Triebkraft des Bedürfnisses nach Seinsspiegelung in weitere vielzählige Äste sowie Blätter und wächst mit diesen nun andere und vor der Sonne versteckte Wege um das Hindernis herum. Sämtliche die Beziehung durch das versorgende Objekt gefährdenden und unerwünschten Bedürfnisstrebungen werden als existenziell bedrohlich und folglich als nicht dem Ich zugehörig empfunden. Da sie nun aber nicht mehr gegen das Objekt gerichtet werden können, bleiben sie unterdrückt und zurückgelenkt im Individuum selbst zurück und bedrängen so das gute und von der Welt akzeptierte angepasste Ich. Die empfundene Bedrohung im Falle einer Bewusstwerdung sich widersprechender Äste ist eine ausgeprägte Existenzangst, die Ausdruck in Scham- sowie Schuldgefühlen und Minderwertigkeitsempfinden gegenüber den unerwünschten Anteilen findet. Ein immer größerer Teil der umfassenden frühen und nun abgelehnten Identität, die ursprünglich reine organismische Bedürfnisvielfalt bedeutete, führt hierdurch bald ein gefährliches Eigenleben abseits der sozialen Realität, was bei Verselbständigung derselben bis zu ausgeprägter Delinquenz und paranoider Verfolgung durch die eigenen Selbstanteile führen kann. Zu diesen Objektstrebungen, die das Seinsempfinden vermitteln sowie die biologische Existenz sichern sollen, gehören zunächst insbesondere die Triebstrebungen. In diesen Verstecken wachsen hinter dem Hindernis alle diejenigen Äste und Blätter heran, welche mit ihren Auswüchsen keine ausreichende Seinsbestätigung zu erhalten drohen, da sie als unerwünscht gelten. Dennoch waren diese Strebungen auch in der frühesten Objektbeziehung präsent und wurden erst nach ihrer Zurückweisung abgelehnt. Sie sind damit definitiv Teil des Seins. Dies führt dazu, dass sie auch grundlegender negativer Bestandteil des ersten psychischen Kern-Ichs sind und damit zu widersprüchlichen inneren Leitsätzen werden. Später werden sich diese ambivalenten und sich widersprechenden Leitsätze der Introjektanteile innerseelisch derart bekriegen und bekämpfen, als gehe von ihnen noch immer dieselbe Gefahr des Liebesverlustes aus wie zur Zeit ihrer Introjektion. Problematisch dabei ist, dass die Ambivalenz über Generationen hinweg weitergegeben wird, sollte sie nicht durch Selbsterfahrung reflektiert, bewusst gemacht und angenommen werden. Es kostet viel Kraft, diese Schuldgefühle einflößenden Identitätsanteile anhaltend aus dem Bewusstsein fern zu halten und sie psychisch aufwendig abzuwehren. Es kann aber nur mit allen Trieben, Strebungen und Blättern gemeinsam irgendwann einmal wieder das volle Seinsempfinden durch die Sonnenstrahlung erreicht werden, da das frühe Ich mit seinem Entwurf vom guten und annehmbaren Ich immer auch von seinen durch das versorgende Objekt abgelehnten Strebungen in seinem Angenommensein bedroht wird. Verästelung bedeutet also zunehmende neurotische Infragestellung und Ich-schwächung. Erst alle unzähligen Auswüchse des Baumes zusammen bilden die Grundlage für einen frei wählbaren Seinsentwurf. Die im Schatten des Hindernisses wachsenden bösen Äste führen jedoch ein vereinzeltes Dasein. Der dagegen im Licht treibende gute Ast soll zunächst allein das ganze Seinsempfinden vermitteln, indem er sich seiner Umwelt übermäßig anpasst, wobei er aber dennoch von ihrer Spiegelung abhängig bleibt. Das muss letztlich irgendwann an Schwäche des einzelnen angepassten Astes scheitern. Wie kommt es überhaupt zur Aufspaltung der Äste? An der Stelle der ersten Aufgabelung vom Hauptstamm spürt der Organismus, dass er seine Objektumwelt benötigt, um von ihr existenziell versorgt zu werden. Er ist sich also auf vegetativer Ebene erstmals seiner Abhängigkeit von ihr bewusst und muss hierzu zum ersten Mal in seinem Leben einen Versuch unternehmen, sich selbst ein Gefühl des Seins und Angenommenwerdens zu vermitteln. Hier muss die plötzlich empfundene Existenzangst mit dem noch sehr undifferenzierten und dem mehr emotional-somatischen als kognitiven Gewahrwerden von Vereinzelung und allem Sein zum Tode erstmals abgewehrt werden. Dadurch wird erstmalig die psychische Ursuppe glücklichster Spannungs- und Bedürfnislosigkeit gestört. Der Organismus erlebt zum ersten Mal eine existenzielle Bedrohung, da er etwas bestimmtes sein muss, um seine Bedürfnisse befriedigt zu bekommen. Es kommt zur ersten Erschütterung des primären Narzissmus durch an ihn gestellte und ihn in seiner Freiheit einschränkende Bedingungen für eine weiterhin vollständige und unmittelbare Bedürfnisbefriedigung. Damit müssen eben auch erstmals einige Strebungen der psychischen Ursuppe spezifischer ausgeformt sowie kristallisiert werden. Andere dagegen müssen aufgeschoben, unterdrückt und zurückgebildet beziehungsweise gegen den Baum verkrüppelt zurückgelenkt werden. Der Mensch erfährt hierbei erstmalig eine Einschränkung seiner Existenzmöglichkeiten und damit auch seiner Wahlfreiheit im Selbstentwurf. Erweist sich die progressive Ablenkung vom Nichtseinskomplex durch Umgehen des Hindernisses und Anpassen an selbiges als einigermaßen erfolgreich, wird auch bei späteren Seinsgefühlversagungen auf die Technik der früheren neurotischen Aufgabelungen von angepassten Seinsentwürfen zurückgegriffen. Damit gleicht man sich dem versagenden Objekt charakterlich immer mehr an. Übersteigt dagegen die neuerliche Versagung der Existenzberechtigung durch eine zu starke Zurückweisung weiterer unerwünschter Strebungen durch ein versorgendes Objekt im aktuellen Entwurf jedoch ein gewisses Ausmaß, so kommt es zu einem Zusammenbruch des ohnehin überangepassten und geschwächten Selbstentwurfs und damit zu einem regressiven, schizoiden Rückzug des Lebenssaftes des Baumes zu derjenigen früheren Aufgabelung, an welcher grundlegende und vitale Strebungen noch zum Selbstentwurf gehörten und das Ich in seiner Akzeptanz dieser Strebungen stabilisierten. An dieser früheren Stelle vor der erneuten Aufgabelung standen dem Ast noch Strebungen und Triebe zur Verfügung, die ihm halfen, sich seine Bedürfnisse nach Selbsterhalt und Überleben zu sichern. Hierzu gehören freilich auch vitale aggressive Strebungen gegen versagende und lebensbedrohliche Objekte. Erst wenn diese aggressiven Strebungen die Bedürfnisbefriedigung längerfristig gefährden, werden auch diese als bedrohliche Selbstanteile unterdrückt und der Ast verliert weiter an Vitalität. Vor der ersten Aufgabelung des primären Stammes in viele reduzierte Äste kann der Stamm noch im Falle einer massiven Zurückweisung auf diese vitalen und archaischen Abwehrmechanismen zurückgreifen und sich gegen das bedrohliche Objekt wehren. In diesem Fall wird das neuerlich die Sonnenstrahlung verhindernde Objekt in der gleichen Art und Weise bekämpft wie das einstige Hindernis des frühen Wachstumsstadiums. Die neue Versagung löst also die früheren Hindernisbekämpfungsmechanismen wieder aus mit dem Ziel, die Äste – die Seinsmöglichkeiten – nicht wieder aufgabeln, teilen und somit erneut schwächen zu müssen wie einst bei der allerersten Aufgabelung grundlegender und umfassender Entwurfanteile. Es geht hier um das Wiedererlangen der uneingeschränkten Seinsberechtigung mit allen Anteilen des Selbst wie zur Zeit des gerade erst geborenen Säuglings. Solche Abwehrmechanismen sollen das Auftauchen existenzieller Ängste verhindern und von ihnen ablenken. Ursprünglich sind diese Mechanismen gar keine Abwehrversuche, sondern objektgerichtete Triebstrebungen der psychisch undifferenzierten Ursuppe mit dem Ziel, durch diese in der Umwelt eine Bedürfnisbefriedigung und später auch Seinsbestätigung zu erfahren. Erst durch die Zurückweisung aus der Umwelt werden einige von ihnen unterdrückt und auf das Subjekt zurück gelenkt, um weiterhin das Gefühl eines guten und annehmbaren Selbst durch weitere positive Spiegelung aus der Umwelt zu erhalten. Das Ausmaß der Rückwendung (Über-Ich) auf das Subjekt stellt demnach die Schwere der Psychopathologie dar. Bei fortgeschrittener Rückwendung der unerwünschten Strebungen nimmt sich das Subjekt dann selbst zum Objekt. Diese Muster bergen in sich immer Impulse zur Unterdrückung unerwünschter Anteile sowie zur Selbststimulation im Falle des Ausbleibens positiver Bestätigung und Versorgung durch die Objekte der Umwelt. Der Organismus geht in diesem Fall mit sich selbst – seinen unterdrückten Introjekten – ersatzweise für das reale Objekt in Kontakt und in Beziehung und bekämpft an sich selbst seinen unerwünschten Teilentwurf, der den einseitig guten Selbstentwurf zu überschwemmen und vermeintlich zu vernichten droht. Diese Abwehrmechanismen halten den Organismus sozusagen unter psychischer Anspannung, um sich der anderen scheinbar destruktiven Selbstanteile nicht gewahr zu werden. Übrigens ist das auch genau der Grund, warum unterdrückte Selbstanteile einzig im Schlaf oder unter schlafähnlichen Bedingungen eine Chance haben, sich deutlicher bemerkbar zu machen und ihr Recht auf Existenz einzufordern. Nur in diesem körperlich spannungslosen Zustand treten die wachenden und neurotisch überspannten Selbstanteile (Introjekte) zurück und gewähren auch unterdrückten Anteilen ein gewisses Maß an psychischer Präsenz. Zur Ablenkung eignen sich alle organismischen Strebungen, die den Organismus reizen und so dessen Bewusstsein auf den Reiz lenken. Dabei kann sich der Organismus nicht gleichzeitig in seinem Nichtsein erfassen und Existenzangst empfinden. Hierbei bilden besonders die primären und vitalsten Objektstrebungen aufgrund ihrer gebündelten Reizung des Organismus ein passendes Ablenkungspotenzial. Da aber gerade diese Strebungen häufig aus dem Selbstentwurf verbannt wurden, müssen sie nun am Subjekt selbst ausgeübt werden, wobei sich das Subjekt teilweise selbst zum Zielobjekt seiner Triebstrebungen nimmt. Es wird quasi ein realer Objektkontakt imitiert, jedoch ohne dabei durch das versagende Objekt bedroht zu sein. Hierzu eignen sich unzählige an Triebstrebungen gekoppelte Handlungssequenzen wie beispielsweise Rauchen, Essen, Sexualität, Selbstverletzen oder auch das Intellektualisieren im inneren Dialog. Paradox ist hierbei, dass neue Versagungssituationen sowohl die frühere Existenzangst auslösen als auch die Chance bieten, den einst verlorenen Kampf gegen das versagende Objekt nunmehr bestehen und die volle Seinsmöglichkeit zurückgewinnen zu können. Denn in zwischenmenschlichen Situationen, welche früheren Versagungssituationen ähneln, kann diesmal vielleicht eine Zurückweisung des versagenden Objekts und eine Selbstbehauptung gegenüber diesem mittels vitaler Abwehrstrebungen stattfinden, ohne diese hierzu längerfristig doch wieder aus dem Entwurf abspalten und unterdrücken zu müssen. Gleichzeitig kann dabei die Erfahrung gemacht werden, dass man in seinen Triebstrebungen überhaupt nicht derart bedrohlich für die Umwelt ist und diese einem das Sonnenlicht nicht mehr versagt, was wiederum die Selbstakzeptanz wesentlich erhöht. Zudem ist man nicht mehr existenziell von einem Bezugsobjekt abhängig. Schließlich besteht in einer solchen Situation nicht mehr die frühkindliche und existenzielle Abhängigkeit vom Objekt, wie sie noch zwischen dem Kleinkind und der versorgenden Bezugsperson besteht. Damit stellen diese Zurückweisungen immer auch Versuchungssituationen mit der Möglichkeit einer Reintegration früher abgelehnter Selbstanteile dar. Ich behaupte sogar, dass man überhaupt nur solchen Menschen gegenüber eine Art Anziehung sowie eine damit ebenfalls einhergehende Ablehnung verspürt, die den verinnerlichten Bezugspersonen – den Introjekten – in gewisser Weise ähneln. Die einverleibten Objekte prägten das Seelische wie kein anderes späteres Objekt der individuellen Entwicklungsgeschichte. Folglich fand ihr Einfluss den größten psychischen Niederschlag im Subjekt. Damit bilden diese Introjekte auch den einzigen ,Beziehungsdraht’ zur Umwelt. Entweder werden die späteren Beziehungspersonen den einstigen Objekten in der subjektiven Wahrnehmung durch Verzerrung und Projektion ähnlich gemacht, da man nichts anderes kennt, oder man geht generell nur Beziehungen zu solchen Menschen ein, die den früheren Bezugspersonen in ihrem Charakter tatsächlich sehr ähneln. Dies erklärt, warum wir so viele frühere Beziehungserfahrungen immer wieder so leicht inszenieren. Diese Inszenierungen stellen wahrscheinlich die einzige Möglichkeit der Kontaktaufnahme des Individuums zu späteren Objekten dar. Sie bilden sozusagen die aufgespielte Beziehungs- und Kontaktsoftware in mir. Später geht es um das Erkennen dieser Software und um ihr Umschreiben, um befriedigendere Beziehungen führen zu können. Freilich dient das Festhalten an der Software auch der Vorhersagbarkeit von Beziehungen und damit einer gewissen Sicherheit im Kontakt. Lieber destruktive Beziehungen als möglicherweise gar keine.
Die Äste für sich genommen sind ohne die anderen schwach, begrenzt und von Anzweiflung bedroht. Dennoch sind alle Triebe bereits gewählt und müssen verantwortet werden. Nur alle Triebe, Äste und Blätter gemeinsam können die volle Sonnenstrahlung zu maximalem Seinsgefühl verwandeln, welches nun auf Selbstakzeptanz aufbaut. Ist ein Baum krank, weil er seine Äste zu sehr angepasst und vergabelt hat, wodurch zu viele dieser Äste ein Dasein im versteckten Schatten führen, kann er die Sonnenstrahlung nicht voll in Lebenssaft und -energie umsetzen. Die im Schatten existierenden Äste müssen in einer schützenden und vertrauensvollen Umgebung, die nicht der existenziellen Bedrohung des einstigen Hindernisses entspricht, zurück ins Licht und damit wieder zu ihren benachbarten Ästen in die Sonne geführt werden. Es bedarf hierzu einer authentischen, empathischen und letztlich wirklich vertrauensvollen Beziehung, um alte Muster ohne Angst vor Zurückweisung überprüfen und korrigieren zu können statt sie durch eine neuerliche Bestätigung der Bedrohung zu verfestigen. Manchmal muss man dabei mit seinen aktuellen Bekämpfungsgewohnheiten und den dazu gehörenden Gefühlen weit in die Vergangenheit und bisweilen sogar bis ganz zurück zur ersten Verzweigung des vitalen Stammes gehen, um zu erkennen und zu erfahren, dass das neuerliche und scheinbar bedrohliche Hindernis in keiner Relation zum einst gefürchteten Hindernis der Kindheit und Jugend steht, und dass man grundlegend richtig in dieser Welt ist und in ihr sein darf. Es geht letztlich also darum sich durch einen inneren freundschaftlichen Dialog zwischen den übermäßig bewertenden und bewerteten Introjekten von unangemessener und einseitiger Unterdrückung lebenswichtiger Vitalität zu befreien und hierdurch wieder offener und freier mit der Umwelt in Kontakt treten zu können. Diese Selbstakzeptanz eigener natürlicher Bedürfnisse führt zu einem grundlegenden positiven Seinsgefühl. Ein solches positives Seinsgefühl wiederum macht eine massive, aggressive und generell wenig sozial verträgliche Verteidigung gegen Anzweiflung von außen zunehmend überflüssig. Ein erneuter Kampf gegen das ursprünglich versagende Hindernis sowie die daraus folgende weitere Aufgabelung der Seinsentwurfäste infolge des verlorenen Kampfes werden unnötig. Der frühere Felsen, um den der Baum zum ersten Mal getrennt herum wachsen musste, existiert nicht mehr. Im Gewahrwerden der jetzigen Gefahrlosigkeit können die sich scheinbar widersprechenden Äste durch eine mutige und verantwortungsvolle Neuwahl derart liebevoll zu einer integrierten und vitalen Identität versöhnt werden, als hätten die Eltern nachträglich hierzu tatsächlich ihre Erlaubnis erteilt. Erst im Zuge dieses Integrationsprozesses steht man der Welt mit einem guten Selbstempfinden offener und auf festerem Stamm gegenüber und kann sie assimilieren sowie genießen ohne innerlich ängstlich auf wenige einseitige und dünne Äste beschränkt zu bleiben.

Montag, 18. August 2008

Eine Buchempfehlung

Bereits während meines Studiums der Rehabilitationspsychologie erschienen mir viele Mainstream-Theorien und Anschauungen der heutigen akademischen Psychologie eifrig konstruiert und wenig phänomenologisch an der eigenen Existenz überprüft. Eben in dieser Überprüfung galangte ich auf der Basis tiefenpsychologischer Konzepte sowie existenzphilosophischer Sichtweisen zu wichtigen Erkenntnissen, die ich seit Juli 2008 in einem kleinen Buch veröffentlicht habe. Da meine human- und geisteswissenschaftliche Sicht der Dinge angesichts einer Zeit der anglo-amerikanisch orientierten und nach Anerkennung als Naturwissenschaft ringenden Psychologie nicht unbedingt populär ist, habe ich große Bedenken, dass meine Gedanken unbemerkt im Buchladen verstauben könnten.

Daher hier nun einige Textausschnitte, um eventuell Durst auf mehr Tiefgang zu wecken.

Titel: Existenzphilosophische Perspektive in der Tiefenpsychologie
Autor: Andreas Mensch
Broschiert: 208 Seiten, 5 Abbildungen
Verlag: Books On Demand GmbH; 7. Auflage
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3833475948
Preis: 16,-€

http://books.google.de/books?id=vxfs2InnxPcC&printsec=frontcover&dq=andreas+mensch&hl=de&ei=ZSv4TNjbOcOZ4Aa28ZXHBw&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1&ved=0CCwQ6AEwAA#v=onepage&q&f=false






Inhaltsverzeichnis

Vorwort 7
Warum uns manche Melodien traurig stimmen
– eine existenzialistische Betrachtung 13
Die Belebung der Leere
– der Versuch einer Grundlegung der Ontologischen Psychologie 19
Die Bedeutung der Existenzphilosophie für die psychodynamische Objektbeziehungstheorie 43
Die Bedeutung der Übertragung aus Sicht der Ontologischen Psychologie 49
Die Bedeutung der Neurose aus ontologisch-psychologischer Sicht – eine Frage der Identifizierung 61
Das ontologisch-psychologische Verständnis des Freud’schen Narzissmuskonzepts 65
Der Andere ist uns bloße Möglichkeit 71
Wenn das Idealselbst zum absoluten und faktischen An-sich wird 75
Wie wir unsere Welt beleben 81
Die Grundantriebe des Lebendigen aus analytisch-existenzieller Perspektive 83
Das Eintauchen in den Existenzialismus 107
die Fallgeschichte Daniel W. aus existenzieller Perspektive 111
Das Sein im Blickwinkel der Gestalttherapie 119
Über die Romantik 129
Der Baum der Identitäten – Ein Gleichnis 133
Was in mir ist, das ist auch draußen 143
Wir sind das, was uns umgibt 175
Der pädagogisch-therapeutische Alltag als Bühne innerer psychischer Konflikte 179
Das Wassertropfenmodell 197
Nachwort 201








Vorwort

Die in diesem Band zusammengefassten Aufsätze sollen einen Versuch darstellen, existenzielle und psychodynamische Ansätze in Bezug auf die Definition des Menschen miteinander zu verbinden. Diese Synthese aus philosophischer und psychologischer Perspektive möchte ich aus pragmatischen Gründen Ontologische Psychologie nennen, da sie das Sein – die nackte Existenz des Menschen – besonders hervorhebt. Man könnte sie als eine kritische Betrachtungsweise psychodynamischer Theoriekonstrukte aus einer existenzphilosophischen Perspektive heraus verstehen. Sie ist angelehnt an SARTRES Existenzialismus und bewegt sich damit im sehr breiten Spektrum der Existenziellen Psychologie und Psychotherapie. Sie versteht den Menschen als permanent in den Versuch involviert, sich psychodynamisch vor der Angst der Sinnlosigkeit und der psychischen Nicht-Existenz zu schützen. Der Mensch wird insofern als ein vor dem Nichtseinskomplex, wie ich ihn bezeichnen möchte, flüchtendes Wesen betrachtet, denn er sorgt sich stets um sein Sein – seine faktische Existenz – in seiner durch die Zeitlichkeit bedingten Endlichkeit, wie es beispielsweise HEIDEGGER ausdrückte. Nach SARTRES Ansicht besticht das Menschsein durch die Dimension des Sich-Vorausdenken- und Entwerfen-könnens, das reflexive Cogito, zu welchem sowohl das Tier als auch der neu geborene Mensch nicht befähigt sind. Die menschliche Existenz als Bewusstsein von sich selbst und der Welt zwingt ihn, sich selbst in die Zukunft hin als etwas Bestimmtes sinnvoll entwerfen zu müssen, um sich sein zu machen und sich als ein Ich zu empfinden. Durch sein Sein als Bewusstsein im ständigen Entwerfen und wiederkehrenden Reflektieren dieses Entwerfens von sinnvollen und zielgerichteten Seinsentwürfen begriffen, entfernt er sich immer wieder von sich selbst und seinem Seinsentwurf und erkennt sich gezwungenermaßen als bloße Seinsmöglichkeit unter unzähligen anderen. Er erkennt, dass er nichts weiter als Möglichkeiten ist und sein Bewusstsein (Für-sich) zwar den Entwurf setzt, jedoch zugleich nichts Bestimmtes und Objektives (An-sich) sein kann, sondern eine Seinsweise ohne dingliches Sein darstellt. Mit diesem Gewahrsein des eigenen Nichtseins erkennt sich der Mensch in seiner Endlichkeit, seiner Beschränkung und seinem Nicht-sein. Dadurch sieht er sich letztlich in seiner Abspaltung von seinem präreflexiven Cogito angesichts seines konstruierten Seins ängstlich in die Existenz geworfen. Er vernimmt, dass nichts im Leben – keine Existenz – stetig, überdauernd und vor dem Vergehen verschont bleibt. Dies stellt die unfassbare Urangst des Menschen dar, die er seit seiner Geburt durch neurotische Abwehrmechanismen subtil zu bekämpfen versucht bis hin zu ausgeprägten Psychopathologien. Ursächlich hierfür ist die im Kontakt mit den ersten Objekten einhergehende Spaltung des anfänglich rein organismischen Ich in ein entworfenes gutes oder böses Ich und in ein dieses Ich reflektierendes, bewertendes Ich. Zum einen wird dabei eine nicht bewusste psychodynamische Abwehr gegen die Existenzangst beziehungsweise Angst vor dem Nichtseinskomplex angenommen. Zum anderen steht fest, dass aus existenzphilosophischem Blickwinkel der Angst vor dem Nichtsein und der durch die Ich-Spaltung empfundenen Sinnlosigkeit der Existenz nur durch Entwerfen eines Sinns im Kontakt mit der Umwelt begegnet werden kann. Das sich immerzu zu nichts reflektierende Denken gibt uns Menschen tatsächlich ein Empfinden des Nichteingebundenseins in einen übergeordneten Sinn, verdeutlicht ihm dabei aber auch seine Endlichkeit und gänzliche Eigenverantwortung für seine Existenz.
Der Mensch erkennt – im Unterschied zum Tier – dass er sterben wird. Zum Leben muss er aber diese Existenz- oder Todesangst auf Distanz zu sich halten und abwehren können. Gelingt ihm das nicht in einem ausreichenden Maß, wird er seelisch krank und greift zu radikalen psychopathologischen Strategien, um sich der sich aufdrängenden Angst zu entledigen. In dieser Betonung der letzten wichtigen Dinge des Lebens, denen sich jeder Einzelne irgendwann selbst zu stellen hat, sofern er bestrebt ist, zu reifen, ist die Ontologische Psychologie eindeutig in der Existenzphilosophie verankert. Reifen meint hier die stetig verbesserte Anpassungsfähigkeit des Individuums an sich verändernde Umweltbedingungen zum Zwecke der Erhöhung der Überlebenswahrscheinlichkeit. Des weiteren nutzt sie als Erklärungsgrundlage und zum Verständnis des Seins die Objektbeziehungstheorie der Psychoanalyse.
Die folgende Zusammenstellung von Artikeln, die jeweils separat voneinander und über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden sind, stellt einen Versuch dar, die Ontologische Psychologie exemplarisch zu umreißen. Dabei verstehe ich sie als eine Möglichkeit einer Ergänzung sowie Bereicherung der überwiegend von Irvin YALOM mitbegründeten Existenziellen Psychotherapie sowie der gesamten Tiefenpsychologie. Sie legt besonderen Wert auf die phänomenologische Interpretation und Analyse vielfältigster alltäglicher menschlicher Eigenarten und überschreitet damit das Gebiet der reinen Psychopathologie. Die Motivation für solche komplexen Überlegungen war schlichtweg meine eigene Konfrontation mit existenziellen Themen wie Eigenverantwortung, Selbstwahl, Sinn und Tod. Nach Abschluss meines Studiums der Rehabilitationspsychologie war ich erfüllt von psychoanalytischem Wissen, das mir in seiner Abstraktheit wenig Antworten auf meine aktuellen Fragen meiner Existenz geben konnte. Ich sah mich wie selten zuvor in meinem Leben nun unmittelbar dem harten Kampf der Arbeitsuche gegenüber gestellt. Mich selbst nach dem Sinn meiner Existenz, nach meiner Berufung angesichts einer enormen Zukunftsangst fragend, stieß ich zunächst auf YALOMS Buch Existenzielle Psychotherapie. Es wies mir eine ganz neue und in ihrer Einfachheit äußerst plausible Denkrichtung auf, die meines Erachtens besser imstande war, mir die letzten Dinge des Lebens verständlicher zu machen und mit ihnen umzugehen. Durch diese Inspiration wurde alsbald mein Interesse besonders für SARTRE aber auch für HEIDEGGER, SCHOPENHAUER, NIETZSCHE und nicht zuletzt WATTS geweckt. Der unerwartete und plötzliche Tod einer nahestehenden Person im selben Jahr verstärkte zudem das Interesse an der Sinnfrage beträchtlich. Die Offenbarung der empfundenen Sinnlosigkeit des Menschen und jeder Existenz durch die Bewusstwerdung der Vergänglichkeit allen Seins löste in mir zunächst eine erschütternde Krise aus, in der sich mein bis dahin konstruierter Sinnglaube auflöste und ich die nackte Kälte des letzten Grundes menschlicher Existenz zu spüren bekam. Erst nach weiterem Studium und Nachdenken erkannte ich für mich das großartige Gefühl der Gelassenheit, welches die Möglichkeit einer offenen Betrachtung aller Vergänglichkeit der Existenz in sich bergen kann. Seither fasziniert mich das simple phänomenologische Erklärungspotenzial sowohl der Existenzphilosophie als auch der Objektbeziehungstheorie. Es fing mit einem banalen Versuch an, die Wirkung von Musik und Klängen auf den Menschen und dessen Befindlichkeit zu analysieren und wurde zu einer Art Grundlegungsversuch einer Ontologischen Psychologie, also einer erweiterten psychologischen Perspektive, die das bloße Sein – die Existenz des Menschen – in solcher Art und Weise in den Fokus rückt wie sonst nur die Existenzphilosophie. Im Umgang mit anderen Menschen, aber auch mit mir selber, versuche ich seither diese Erkenntnisse der existenziellen Ebene der Angst vor dem Nicht- und Vereinzeltsein zu berücksichtigen. Es gelingt freilich nicht immer und manchmal auch gar nicht und dann wiederum sehr gut. Aber solange ich über einen reflexionsfähigen Verstand verfüge, versuche ich mir und meinen Mitmenschen als gemeinsam um die Existenz kämpfende Individuen zu begegnen. Individuen, die teilweise sehr ähnliche und dann wieder sehr einzigartige Werkzeuge im Kampf um das Dasein gebrauchen. Wir alle ringen dabei um dasselbe Ziel, die einzigartige und herausragende Existenz, die sich von der Vergänglichkeit allen anderen Seins abhebt. Dazu brauchen wir die anderen, die soziale Umwelt, welche uns dieses erhoffte Sein im Kontakt mit der Umwelt spiegelt. Wenn wir aber nach viel Reflexion unser Dasein als reinen Seinsentwurf erkennen, der uns vor Existenzangst bewahren soll, bricht selbst in den stärksten von uns ein Vulkan tiefgreifender Gefühle aus. Aber erst dann steht uns mit der Erkenntnis der Vergänglichkeit allen Seins der Weg für die Wertschätzung allen Lebens und damit einer grundlegenden Verhaltens- und Wahrnehmungsveränderung offen. Vieles Neurotische wird angesichts dieser Erkenntnis schlichtweg belanglos. Ein erzwungenes Bemühen um Mitgefühl für das Leiden der inneren Spaltung des Menschen in Entwurf (ideales oder entwertetes Ich) und Entwerfenden (beobachtendes Ich) ist dann auch nicht mehr nötig. Das Mitgefühl ist einfach da, denn beim Erleben des Leidens unseres Gegenübers am Dasein bricht auch immer wieder das eigene Leiden an der Vereinzelung der Existenz aus. In diesen Momenten des verzweifelten Kämpfens um das Sein sind wir Menschen alle gleich und grundlegend miteinander verbunden.
Was diese neue Auflage um die vorherigen erweitert ist ihre etwas veränderte und offenere Sichtweise bezüglich der allgemeinen Sinnfrage. Auch wenn die Existenzphilosophie Sartres einen außerhalb des Menschen existierenden Sinn des Seins völlig ablehnt und diesen als eine rein konstruierte Essenz unserer Existenz ansieht, so kann zwar durch die existenzphilosophische Analytik definitiv keine positive Aussage über etwas Höheres wie Gott getroffen werden. Jedoch gilt dies meines Erachtens genauso für den umgekehrten Fall. Es kann auch keine negative Aussage über die Existenz von etwas Sinnvollem getroffen werden, da wir die Wirklichkeit einfach nicht erkennen können, sondern in der Phänomenologie verhaftet bleiben müssen. Dies ändert nichts an dem zur Freiheit verurteilten Menschsein und an der damit einhergehenden Verpflichtung zur Verantwortung für sich selbst und auch für andere als Entwurf. Auch ändert dies nichts an der tatsächlich tief empfundenen Existenzangst vor Vereinzelung und Sinnlosigkeit, welche die Wurzel der psychischen Struktur bildet. Es ändert lediglich die Betonung von: „Es gibt keinen Sinn!“ hin zu: „Wir wissen nicht, ob es einen übergeordneten Sinn außerhalb unserer Konstruktionen gibt!“ Demnach ist die Existenzangst kein feststehendes menschliches Phänomen, sondern wird als ein solches empfunden und erlebt. Durch diese Einsicht stellen sich meine analytischen Erkenntnisse wesentlich toleranter dar als in den vorherigen Ausgaben. Keiner kann letztlich für sich die Wahrheit beanspruchen, sondern nur eine unter unendlich vielen.
Letzten Endes bleibt die Welt wohl bei allem wissenschaftlichen Bemühen um vollkommene Erkenntnis doch immer ein unergründliches Geheimnis, das umso größer wird, je mehr wir es zu verstehen glauben. Und so bleibt auch der Mensch samt seinem Seelenleben ein solches sowohl faszinierendes als auch unbegreifliches Geheimnis und verlangt in der Begegnung mit diesem Demut und Würdigung.



Andreas Mensch





Nachwort

Was ergibt sich nun eigentlich aus dem vorher Gesagten für die Bestimmung und Definition des Menschen? Ist er nun in seiner Freiheit seiner Selbstwahl als Für-sich ohne jede Chance auf ein An-sich völlig eigenverantwortlich für sein Handeln? Fakt ist, dass er mit seiner Erkenntnis stets nur immanent in seinem Bewusstsein gefangen bleibt. Weder etwas Übermenschliches noch etwas Äußeres scheinen ihm zu sagen, ob sein Denken und Tun falsch oder richtig sind. Er kann sich also auf keine höhere Moral berufen, sondern muss diese aus sich selbst heraus entwerfen. Theoretisch müsste er dadurch imstande sein, seinen Entwurf völlig frei von jeglicher Fremdbeurteilung zu wählen. Die notwendige Bedingung hierfür ist jedoch, wie bereits erwähnt, ein ausgereifter Neokortex (speziell der Frontallappen mit Fähigkeiten des Planens, Entscheidens, Zielsetzens, Verknüpfens von Gegenwart mit Zukunft und letztlich der Möglichkeit, sich von sich selbst als ein Seinsentwurf zu distanzieren), der über ein umfangreiches Überschauvermögen verfügt und damit auch überhaupt erst über die Fähigkeit, sich anders als im aktuellen Entwurf zu erfinden beziehungsweise zu fantasieren. Erst mit dieser ausgestatteten Intelligenz kann sich der Mensch infrage stellen und auch andere Möglichkeiten seines Seins erahnen. Geht man rein von diesem Standpunkt aus, dann ist der Mensch tatsächlich nicht faktisch, nicht beständig, nicht absolut und nicht vorherbestimmt. Durch sein Bewusstsein von sich selbst würde er dann voller Angst erkennen, dass er weder ein bestimmtes noch ein sinnvolles Sein ist, welches sich von den anderen Existenzen unterscheidet. Sein Selbstbewusstsein – also sein Bewusstsein von sich selbst – würde ihm dann unter gewissen Umständen, wie einer uneingeschränkten Selbstreflexion, alle seine Entwurfmöglichkeiten aufzeigen. Mit dieser Fähigkeit der Selbstdistanzierung von seinen bisherigen Selbstentwürfen wäre der Mensch hiernach sowohl nichts als auch alles, da er sich zu allem wählen und damit zu allem sein machen und entwerfen könnte. Er könnte in mutiger Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber seinen Entwurf frei wählen und wäre dadurch auch nicht mehr bestimmt, etwas zu sein, was er vielleicht gar nicht sein will. Wenn er sich beispielsweise durch die Spiegelungen der anderen als etwas Bestimmtes und Einengendes empfände, wäre er jederzeit auch frei, sich anders zu entwerfen und sich somit unabhängig von der Beurteilung der ihn unmittelbar umgebenden Umwelt zu machen. Das klingt doch irgendwie sehr verlockend… Er müsste dann freilich auf die wunderbare und tröstende Illusion verzichten, absolut und durch eine Essenz definiert zu sein. Jedoch hätte er in der Freiheit, die Essenz nach seiner Existenz selbst zu bestimmen, alle Möglichkeiten offen, sich existent zu machen. Er würde in seinem freien Entwurf natürlich auch eine subjektive Perspektive auf den Menschen mitbegründen, da dieser Blickwinkel reflektierbar ist und ein vor sich und anderen zu verantwortendes Menschenbild beinhaltet, welches er nach außen hin sichtbar vertritt. In dieser Freiheit wäre er ganz klar für andere und sich selbst verantwortlich, da er die Welt für sich in seinem Bewusstsein nach seinem eigenen individuellen Entwurf erschafft. Nur sein Handeln im Entwurf würde dann sein Sein bestimmen. Und nur durch dieses Handeln könnte er beurteilt werden. Der Mensch wäre demnach nur das, was er tut. Es gäbe nur seinen aus unendlich vielen Möglichkeiten frei gewählten Entwurf, der sich in der reinen Aktion und nicht im Selbstdarstellen offenbart. Eine weitere bereits angedeutete Bedingung für diese Freiheit ist jedoch, dass man seine vielfältigen Entwurfanteile auch alle kennen muss, um sich von ihnen distanzieren zu können. Aber ist denn das überhaupt möglich? Von welchem Standpunkt aus könnte man denn alle seine potenziellen Entwürfe erblicken und damit frei wählen? Müsste ich denn hierzu nicht gerade buchstäblich transzendent außerhalb meines Bewusstseins stehen? Und wie sieht es mit der realen und scheinbar unproblematischen Umsetzung der oben geschilderten absoluten Freiheit aus? Gibt es da nicht spürbare und stark emotionale Widerstände in Form von Existenzängsten, der Angst vor Vereinzelung, Sinnlosigkeit und Tod?
Zur Klärung dieser Frage ziehen wir erneut die bereits ausführlich dargelegte Objektbeziehungstheorie heran, deren grundsätzlichen Postulate man hierbei nicht außen vor lassen darf, wenn man auch die erwähnten Widerstände verstehen möchte. Genau an diesem Punkt treffen und ergänzen sich Existenzphilosophie und die Objektbeziehungstheorie der modernen Psychoanalyse. Es wurde festgestellt, dass der Mensch keineswegs zu jedem Zeitpunkt seiner lebensgeschichtlichen Entwicklung über einen voll ausgereiften Neokortex und damit über ein ausgeprägtes Reflexionsvermögen verfügt. Gerade in den ersten Jahren der frühen Kindheit bis zur Pubertät erfolgen noch eine umfangreiche Ausbildung und Umformung des Gehirns durch zahlreiche Umwelteinflüsse. In der Interaktion mit der Umwelt werden grundlegende Objekterfahrungen zunächst auf rein somatisch-vegetativer Ebene gesammelt und verinnerlicht. Diese bestimmen dann sowohl unseren Umgang mit uns selbst als auch unser Bild von uns und damit unseren grundlegenden Entwurf. Da der Säugling zunächst nur durch primäre emotional-triebhafte Objekterfahrungen und deren allmähliche Internalisierungen eine undifferenzierte Psyche aufbaut, existiert vorerst noch keine innerpsychische Instanz, die man verstehendes Bewusstsein von sich selbst nennen könnte. Er verspürt sowohl seine Ablehnung durch die Umwelt als auch sein Angenommensein von ihr zuerst nur als rein triebhafte und somatisch-vegetative Erfahrung. Existenzielle Angst sowie ihr Gegenstück, die manisch-omnipotente Angstfreiheit, wirken also tief unbewusst in phylogenetisch älteren Hirnregionen sowie Organkomplexen und entziehen sich größtenteils dem späteren kognitiven Bewusstsein. Der Mensch bekommt also sein erstes Bild von sich selbst und seiner Umwelt ausschließlich von den Spiegelungen der ihn umgebenden Menschen auf zunächst somatisch-vegetativer und später kognitiver Ebene eingepflanzt. Erst dann, wenn er über eine Vielzahl an differenzierteren Selbst- und Fremdbildern durch verschiedene Objekterfahrungen im weiteren Entwicklungsverlauf verfügt, kann er einen Perspektivwechsel zwischen den nun verschiedenen und abgegrenzten Entwürfen vollziehen und so auch zwischen ihnen wählen. Dies wiederum ist auch nur unter der Bedingung einer gewissen Intelligenz möglich, die auf einem ausgereiften Neokortex beruht. Ich muss schließlich in der Lage sein, meine verschiedenen Entwurfanteile zu überblicken, um sie wählen zu können. Daraus folgt aber, dass man wirklich restlos alle seine verschiedenen Seinsentwürfe, einschließlich der allerersten und durch die frühkindliche Amnesie nicht mehr bewusst abrufbaren triebhaften, kennen müsste, um gänzlich frei wählen zu können. Um sie aber dennoch zu erkennen, müsste ich sie insbesondere kognitiv erfassen können, da mein begriffliches Denken die mitteilende Sprache des gereiften Bewusstseins des Menschen ist. Wenn mein überschauendes Bewusstsein in erster Linie das Resultat internalisierter Objekterfahrungen ist, dann können auch alle späteren psychischen Inhalte wie die Art und Weise zu denken und wahrzunehmen letztlich nur aus bereits gemachten Erfahrungen erlebter und verarbeiteter Perspektiven einst realer Objekte aus der Umwelt bestehen. Das Denken und Wahrnehmen (Bewusstsein) sind also nichts Unabhängiges, mit dem ich meine Entwürfe einfach im Raum schwebend überblicken kann, als seien sie diejenigen einer fremden Person. Die Art und Weise des Denkens und Wahrnehmens sind mit ihrer Kopplung an primäre Introjektionen vielmehr selber ein Sich-engagieren sowie Sich-in-Situation-begeben und damit ein Entwurf und Ausdruck des Seins. Man ist also immer Entwurf und zugleich Entwerfender. Dabei ist es egal, was man denkt, wahrnimmt, fühlt oder tut. Nur werden eben in der Selbstreflexion beide Rollen dennoch grundlegend als voneinander entzweit empfunden, da man den Entwerfenden niemals erblicken kann. Das Bewusstsein konstruiert und nichtet den Seinsentwurf wieder. Versucht der Mensch jedoch den Konstrukteur zu erblicken, erkennt er lediglich nur wieder einen Entwurf von sich selbst, dreht sich einmal im Kreis und bleibt letztlich auch hierin immer nur immanent. Er bleibt sich selbst unerkannt und entwirft sich solange, bis er sich selbst wieder mit Hilfe der Fremd- oder Selbstreflexion als ein ursprünglich in das ungespaltene organismische Ich introjiziertes Objekt und damit als einen Entwurf bewusst erkennt. Es ist also egal, welche Perspektive man in seinem Bewusstsein einnimmt. Es wird immer eine Kameraposition bleiben, in welcher selbst nur wieder unbewusst ein früheres Introjekt als Kameramann filmt. Ein Entrinnen aus dieser ewigen Kette aus fortlaufenden Neuentdeckungen und Nichtungen von Seinsentwürfen kann es folglich nicht geben, da man sonst ein außerhalb des Bewussteins stehendes stetiges und transzendentes Sein (An-sich) implizieren würde, aus dessen Perspektive man sich unabhängig von jedem Introjekt und jeder bisherigen Umwelterfahrung stetig reflektieren könnte. Man kann sich also nie von allen Introjekten befreien. Die Qualität des reflexiven Cogitos unterliegt somit letztlich auch nur wieder einem Entwurf und bleibt folglich immanent Für-sich. Jedes Reflektieren ist im Grunde doch nur wieder Entwurf auf einer anderen Ebene und damit lediglich ein Perspektivwechsel zwischen bereits gemachten Seinserfahrungen. Hieraus resultiert aber auch, dass der Mensch umso freier in seiner Seinswahl ist, je vielfältigere Umwelterfahrungen und Perspektiven er für seine Entwürfe sammelt. Schlussfolgernd kann es eine letzte völlige Freiheit einer Seinswahl – also einen gänzlich freien Willen – ohne die vollständige Kenntnis unserer Entwürfe demnach nicht geben. Denn gerade unsere frühesten Erfahrungen mit den uns umgebenden Menschen bilden die grundlegendsten Seinsentwürfe auf noch somatisch-vegetativer Ebene und bestimmen dadurch unser frühestes Denken, Fühlen, Wahrnehmen und folglich Handeln. Damit färben die frühesten Erfahrungen mit ihrer existenziellen Qualität alle späteren Beziehungserfahrungen und Selbstentwürfe ein. Eine Anpassung an die gewünschten Umweltbedingungen sichert also zunächst die grundlegende Existenz, auch wenn dies später überflüssig wird, da der Organismus sich selbst versorgen kann und unabhängiger von seiner Umwelt ist. Ganz unabhängig von der Bewertung durch andere wird der Mensch jedoch niemals sein, da er durch die Tatsache, dass seine psychische Existenz zu einem gewissen Teil aus Objekteinverleibungen besteht, grundlegend von dieser frühesten Objektwelt geprägt wird und von dieser in einer Entwicklungsstufe abhängig bleibt, in welcher noch keinerlei alternative, differenzierte und kognitiv ausgereifte und reflektierbare Entwurfmöglichkeiten vorhanden sind, da weder eine bereits ausreichende kortikale Reifung bestand noch genügend Objekte einverleibt werden konnten. Wenn man sich in einer fremdunterstützten Selbstreflexion selbst betrachtet und dabei den Standpunkt des Therapeuten einnimmt, dann ist auch dies wieder die Perspektive eines neuen Introjekts, welches nun ein weiterer differenzierter Bestandteil der eigenen Psyche wird und so das Selbstkonzept erweitert. Um es noch einmal zu betonen: Je weiter man in der Entwicklungsgeschichte zurückgeht, desto weniger kognitiv ausdifferenzierte Introjekte – also Selbstentwürfe – sind psychisch verankert, da eben noch viele Erfahrungen mit der Umwelt fehlen oder diese zunächst nur somatisch-vegetativ gespeichert werden können. Zur Zeit der ersten konstanten Objekterfahrungen ist also noch überhaupt kein alternatives, abgegrenztes und reflexionsfähiges Objekt (Ich) zur ersten Bezugsperson introjiziert. Dies führt dazu, dass einfach kein anderes verinnerlichtes Objekt beziehungsweise keine andere Entwurfmöglichkeit existiert, deren Perspektive man alternativ einnehmen könnte, um sein anderes Introjekt zu beobachten und eine Distanz zu diesem einzunehmen. Und gerade dies führt dazu, dass unsere frühesten Erfahrungen nur aus einer einzigen Perspektive des primären organismischen Introjekts heraus erlebt werden können und das eben noch nicht kognitiv, sondern eher intuitiv, symbolisch und somatisch-vegetativ. Zwar kann dieser primäre Entwurf – das erste Ich, wenn man so will – durch spätere Beziehungserfahrungen erweitert und überbaut werden, jedoch bleibt immer der unbewusste und unzugängliche ambivalente Kern darunter erhalten und färbt alle weiteren Beziehungen ein. Es gibt sozusagen noch kein alternatives kognitives Ich, welches das andere primäre gespaltene Ich bewusst reflektieren könnte. Und eben deshalb sind die frühesten Erfahrungen dem späteren Bewusstsein einfach nicht zugänglich. Es gab damals buchstäblich noch keinen anderen in mir, der mich hätte beobachten können. Es gibt einfach keine Erfahrung des ersten Ichs, des primären Seinsentwurfs. Bei der ersten ambivalenten Introjektbildung von einer Art Prägung zu sprechen, ist sicher nicht übertrieben. Um wirklich absolut frei zu sein, müsste man nicht nur unabhängig von seinem Bewusstsein sein, sondern auch ganz bewusst zurück zur ersten Objekterfahrung der individuellen Existenz gehen, um sie als solche reflektieren und sich von der von ihr ausgehenden existenziellen Angst distanzieren zu können. Und hierzu wäre es theoretisch eine therapeutische Notwendigkeit, dem noch undifferenzierten, somatisch-vegetativen und von Affekten bestimmten ambivalenten Ich ein alternatives und gleichbedeutendes Introjekt mit sowohl frühkindlichen somatisch-vegetativen als auch reiferen kognitiven Qualitäten zur Seite zu stellen, um eine Übersetzung der frühesten Eindrücke in ein kognitiv Verstehbares und damit in ein vermehrt Kontrollierbares zu ermöglichen. Aber wie soll ein solches Introjekt mit beiden Qualitäten gleichzeitig neben das geprägte ambivalente Kern-Ich eingepflanzt werden, wenn der Therapeut nicht in die Vergangenheit des Betroffenen zurückgehen kann, um sich ihm alternativ als heilsames primäres Bezugsobjekt zur Verfügung zu stellen? Und wie soll das gelingen, wenn der Therapeut heute selber nur noch über die überwiegend kognitiven Qualitäten seines Bewussteins verfügt jedoch nicht mehr über die vegetativ-somatischen? Selbst wenn Therapeut und Klient sich unbewusst auf tiefster Ebene begegnen könnten, so bleibt noch die Frage nach der Übersetzbarkeit der intuitiven, symbolischen und somatisch-vegetativen Erfahrungen in etwas kognitiv und verbal Begreifbares offen. Ein Therapeut kann sich seinem Klienten also nur als ein stützendes und vermittelndes Hilfs-Ich zum bereits bestehenden primären ambivalenten Ich des Klienten anbieten, dieses jedoch nicht durch sein eigenes, unabhängiges und überschauendes Ich ersetzen. Hieraus folgt meines Erachtens, dass der Mensch tief unbewusst eben doch ein Leben lang bis zu einem gewissen Maß existenziell von der Bewertung, Bewunderung und wertschätzenden Zuwendung seiner Umwelt abhängig bleibt, da er die primären Entwürfe nicht als solche zu reflektieren vermag (zumindest nicht kognitiv) und in ihnen dadurch unmerklich involviert bleibt, wenngleich in geringerem Ausmaß als zur Zeit der frühesten Umwelterfahrungen seiner Existenz. Dies impliziert aber auch seine grundlegende und notwendige soziale Ausrichtung. Er will nämlich wegen seiner tiefen inneren Spaltung in Gut und Böse und seinem stetigen Zweifel an seinem Gutsein immer als gutes und angenommenes Wesen physisch wie psychisch von außen gespiegelt werden.
Wie sehr sich der Mensch auch reflektiert und wie viel Selbsterfahrung er hat. In seinem Entwurf konstruiert sich der Mensch seine Welt immer erst nach seinen bereits gemachten Erfahrungen und Differenzierungen wie seit Beginn seiner Ontogenese. Es steht also die unberechenbare prälogische Erfahrung vor dem Begreifen derselben und damit auch vor der bewussten Wahl! Vielfältige Objekterfahrungen sind somit die notwendige Bedingung für das Treffen einer freieren Wahl, da sie gewissermaßen das Baumaterial für neue Kombinationen an Entwürfen bilden. Wenn aber die ersten Erfahrungen mit der Umwelt nur aus derselben stammen können, dann sind sie nicht von Beginn an rein subjektiv, sondern aus der Objektwelt unreflektiert einverleibte und mit dem Organismus verwobene Sinneseindrücke, da zu dieser Zeit noch keine intrapsychische Instanz zugrunde liegt, die die ersten Eindrücke aus einer innerlichen Distanz hätte reflektieren können. Es sind überwiegend Umwelteinflüsse mit somatisch-vegetativer, emotionaler und daher eher prälogisch-intuitiver Qualität, deren Motive ich selbst als reflektierender Erwachsener nicht ohne weiteres erkennen kann. Hier tut sich deutlich die Grenze der realen und vollständigen Umsetzbarkeit des SARTRESCHEN Existenzialismus auf. Denn ganz offensichtlich stehen sich hier kognitive Kontrolle und unreflektierbare primäre Grundentwürfe, die mein aktuelles Handeln, Fühlen und Denken stets mit unbewussten früheren Eindrücken einfärben, gegenüber. Auf der einen Seite steht der Anspruch, alles Innerpsychische durch Selbstreflexion kontrollieren zu können. Auf der anderen Seite können gerade die frühesten und sowohl von Verschmelzung als auch von Abhängigkeit zum primären Objekt geprägten Introjekte samt ihrer existenziellen Gefühlswelt nicht vollständig reflektiert werden, da sie selbst keine rein kognitive und sprachlich-begriffliche übersetzbare Erfahrung und Qualität darstellen. Die Willensfreiheit wird also maßgeblich durch die Funktion des Neokortex bestimmt. Und eben dieses Hirnareal ist das typisch menschliche und, phylogenetisch betrachtet, am höchsten entwickelte. Da aber bereits viele subjektive Erfahrungen zu einer sehr frühen Zeit einer noch unzureichenden kortikalen Entwicklung in der Ontogenese gemacht wurden, waren hierbei größtenteils tiefere und ,primitivere’ Hirnschichten involviert, die in ihrer archaischen, instinkthaft-reflexartigen und emotionalen Qualität nur begrenzt dem Reflexionsvermögen des Neokortex zugänglich sind. Absolute Freiheit gibt es demnach nur, wenn – bildlich gesprochen – auch das letzte neurotisch gespaltene Ich bis hin zur ersten reinen vegetativen und emotionalen Erfahrung des ursprünglichen organismischen Ich regressiv erfasst wird und dadurch reflektiert ins Wanken gerät. Dann versagt jedoch sogar die autoerotische oder autoaggressive Selbststimulation und weicht der Psychose zur Abwehr der mit der Freiheit einhergehenden und plötzlich frei flottierenden Nichtseinsangst. Und niemand wird diese ein Leben lang anhaltende überwältigende und regressive Macht der existenziellen Gefühle wie Angst, Hass, Liebe, Trauer oder Freude leugnen. Der Mensch ist eben kein Übermensch. Er ist demnach also nur begrenzt frei, was freilich keine Rechtfertigung für sozial schädigendes Verhalten bedeutet. Er muss natürlich Fehler, die möglicherweise auch frühesten geprägten Mustern entsprechen, erst einmal machen. Aber durch eine zunehmende Reflexion seiner Muster kann er diese in der Zukunft vielleicht immer schneller an sich wahrnehmen und sie als etwas Natürliches, Schützendes und Notwendiges anerkennen, auch wenn sie nicht dem bisher erwünschten Selbstentwurf entsprechen. Dies führt längerfristig zu einer Aufweichung des einseitigen und existenziell einengenden Selbstentwurfs und damit zu mehr Selbstakzeptanz, Selbstannahme und Selbstliebe. So können vermeintlich destruktive Muster leichter akzeptiert, reintegriert und in ihrer Ausführung wegen der zunehmenden kontrollierenden Bewusstheit von ihnen immer schneller und vollständiger unterbrochen werden. Nur im Erkennen und Akzeptieren seines Verhaltensmusters als ein ständiges Streben nach Entsprechung seines Selbstentwurfs gewinnt der Mensch letztlich mehr und mehr Freiheit, Gelassenheit und Ruhe im Sein. Hierbei hilft ihm die immer wiederkehrende Einsicht in die Nutz- und Sinnlosigkeit seines Strebens nach Selbstverdinglichung und Verewigung entsprechend seinem einengenden und auf positive Zuwendung ausgerichteten Seinsentwurf. Nur die Akzeptanz dieser Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit dieses neurotischen und ständig treibenden Versuches der Verschmelzung von beobachtbarem idealem (erotischem) Sein mit entwerfendem Sein ermöglicht ein verstärktes psychisches sowie physisches Loslassen von der Idee, etwas Besonderes, absolut Gutes und zeitlich Überdauerndes sein zu müssen. Menschsein bedeutet ein sich ständig wandelnder Entwurf zu sein, der sich in jeder tiefen Erfahrung und Begegnung mit der Umwelt durch Assimilation derselben verändert. Man kann natürlich versuchen, sich mit aller geistigen Anstrengung selbst sein setzender idealer Grund zu sein. Das bedeutet jedoch nichts anderes, als einer Illusion und vergeblichen Selbsttäuschung nachzujagen. Zwar bleibt man durch die natürliche frühe Spaltung des organismischen Ich tief in der Seele in seinem Grundentwurf immer in einem gewissen Maß existenziell von der positiven Seinsspiegelung durch die Mitmenschen der Umwelt in vertrauensvollen und verbindlichen Beziehungen in der Art abhängig, wie man es als Säugling gegenüber seiner Mutter war. Das bedeutet, dass früheste psychische Schutzmechanismen, die das ungespaltene organismische Ich vor Ablehnung durch die versorgenden Bezugspersonen und damit auch vor Existenzangst schützen sollten, immer bis zu einem gewissen Maß aktiv bleiben werden. Man wird jedoch durch die Akzeptanz der Tatsache, dass es in Wirklichkeit nicht mehr die reale physische Existenz zu verlieren gibt, sondern nur eine frühere Essenz, die fälschlicher Weise fortwährend für die reale Existenz eines überdauernden Ichs gehalten wird, zunehmend freier und weniger neurotisch im Entwerfen und Verteidigen des Entwurfs. Das gute Ich (erotisch), welches ständig vor der Anzweiflung des von ihm abgespaltenen bösen Ich (aggressiv) verteidigt werden muss, wird in der Erfahrung, dass beide Ichs ein Teil desselben ungespaltenen organismischen Ichs sind, immer überflüssiger und erlaubt einen ungehinderten angstlosen Kontakt mit der Umwelt. Es gibt nichts zu werden, nichts zu erreichen und dadurch auch nichts zu verlieren. Man ist immer das, was man gerade in seiner Erfahrung als Für-sich ist; nicht mehr und nicht weniger. Mit dieser zugleich schmerzlichen als auch befreienden Einsicht in die menschliche Existenz kann sich auch eine zunehmende psychische und physische Entspannung einstellen. Genau das zu erkennen und zu erfahren, bemüht sich in einer existenziell verbindlichen Beziehung unter anderem die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Nur eine solche reflektierte, authentische und existenziell verbindliche Beziehung ermöglicht meines Erachtens eine wirklich tiefe Selbst- und Fremdakzeptanz durch eine gefahrlose, kindliche, urvertrauensvolle und selbstvergessene Begegnung von noch ungespaltenem, natürlichem und organismischem Ich mit seiner versorgenden und gefahrlosen Umwelt. In ihr findet dann ein ungespaltenes Sich-in-Situation-begeben und damit ein echter selbstvergessener Kontakt statt, der wiederum einen steten lebensnotwendigen Assimilationszyklus ermöglicht.



“Denn wenn der Geist gespalten ist, und das geistige Ich der gegenwärtigen Erfahrung entrinnen möchte, ist der ganze Begriff einer übernatürlichen Welt sein günstiges Versteck. Dies Ich widersetzt sich einem ungünstigen Wechsel und klammert sich daher an das unwandelbare Absolute, dabei vergessend, daß dies Absolute auch das Nichtfeststehende ist.“

Watts, A. W. (1992). Weisheit des ungesicherten Lebens, S. 138 f., 8. Aufl., Bern und München: Otto Wilhelm Barth Verlag