Sonntag, 1. März 2015

Vom Ich zum Ich bin allein

Andreas Mensch

Das existenzphilosophische Für-sich ist das Engagiert-sein im Entwurf, das In-Situation-sein. Psychoanalytisch könnte es auch als das Selbst im Zustand der Identifikation als Ich (einen vorübergehend durch ein Bedürfnis besetzten Anteil des Selbst) bezeichnet werden. Gestalttherapeutisch ist es das Selbst als Ich im Kontakt mit der Umwelt. Es ist im Moment des Kontaktes, des Engagiert-seins im Entwurf (in ein sinnvolles und zielgerichtetes ganzheitliches Handeln mit motorischen Anteilen, Triebanteilen, Emotionen und Kognitionen), nicht durch das Subjekt selbst reflektierbar und verleiht ihm dadurch das persönliche Erleben des Eins-seins als ein bestimmtes identifizierbares einzigartiges Sein.

Je konsistenter und kohärenter das (psychoanalytische) Selbst ist, desto mehr kann das Ich in Beziehungen (im Kontakt) vom Selbst ablassen (vom Bedürfnis, das An-sich-für-sich zu sein) und als identitätsloses Für-sich seine Selbstlosigkeit aushalten. Mit dieser Fähigkeit, sich selbst als Entwurf und zugleich Entwerfenden zu erkennen und auszuhalten, geht die Fähigkeit einher, allein sein zu können. Ein kohärentes Selbst ist also ein komplexer, in sich schlüssiger Seinsentwurf. Erst dieses Erleben eines Individuums als in sich konsistentes, kohärentes und schlüssiges Selbst (komplexer Entwurf mit guten wie negativen Entwurfanteilen bzw. Repräsentanzen) befähigt das Subjekt sozusagen – geübt, sich selbst als komplex und vielfältig wahrzunehmen –, von sich selbst als physisch wie psychisch statisch dinghaftes Etwas abzulassen und sich dadurch von der Illusion des An-sich-für-sich zu befreien. Das ermöglicht eine höhere seelische Beweglichkeit als Für-sich als sogenannte seelisch-organismische Funktion ohne Substanz. In dieser Beweglichkeit des Für-sich (oder gestalttherapeutischen Selbst bzw. psychoanalytischen Ich) ist erst ein psychisches wie physisches Wachstum im Sinne biologischer Strebungen ohne hemmende Blockaden möglich.

Doch wie gesagt: Die Voraussetzung für derlei seelische Beweglichkeit ist die vorherige Selbsterkenntnis, das Selbsterleben als zunächst imaginiertes dinghaftes, komplexes, integriertes und vielschichtiges Selbst mit einem Reichtum an integrierten fassettenreichen und teilweise auch widersprüchlichen Selbst- und Objektrepräsentanzen, innerhalb derer man seine seelische Beweglichkeit durch wechselnde aber nicht voneinander abgespaltene Besetzungen (wie Inseln mit festen Brückenverbindungen untereinander) übt und die Erfahrung macht, dass man ganzheitlich ist, in seiner Vielfalt samt aller aufkeimender Triebimpulse (vgl. Winnicott, 2006, S. 42) gespiegelt und angenommen wird, also von der Objektwelt des Subjektes positiv in seiner Komplexität auch widersprüchlicher Repräsentanzen gespiegelt wird. Das psychische Ich muss zunächst in seiner integrierenden und organisierenden Funktion mit entsprechender stützender Umweltfürsorge erwachsen, um anschließend durch spiegelnde, therapeutische Unterstützung aus seinen Identifizierungen, die nichts anderes als Fixierungen bzw. offene Gestalten mit den entsprechenden fixierten Kontaktfunktionen sind, befreit zu werden. Das Spiegeln kann jedoch nicht einfach durch ein Objekt geschehen, mit dem das Subjekt in unmittelbarem Kontakt/ Beziehung steht, denn im Moment der Beziehung sind beide Subjekte miteinander im Entwurf engagiert und es kann keine Reflexion des Objektes über sich selbst in diesem Engagiert-sein erfolgen. Es muss also durch einen sogenannten Dritten eine Reflexion des Engagiert-seins beider in Beziehung befindlicher Subjekte stattfinden. Erst dann gewinnt das Subjekt durch die Reflexion des Dritten ein objektives Bild seines Seins im Entwurf. Ein guter Psychotherapeut vereint in sich genau diese beiden Qualitäten nämlich einerseits die des Engagiert-seins im Entwurf (also in der Beziehung) zum Patienten und andererseits die des Einnehmens der Rolle des Dritten als objektiver Beobachter. Der Therapeut muss also die Fähigkeit haben, sich abwechselnd voll und ganz in die Beziehung, den Kontakt, mit seinem Gegenüber hineinzubegeben und dann wieder als Beobachter der Szene und seiner Selbst aus dem Kontakt hinauszugehen, ohne jedoch den Kontakt dabei ganz zu verlieren, sondern jederzeit wieder in diesen eintauchen zu können. Ein Therapeut muss also, um diese Beweglichkeit in sich zu bewerkstelligen zu können, selbst über die oben beschriebene seelische Beweglichkeit auf der Grundlage eines komplexen und kohärenten Selbst, welches eine wechselnde Besetzung seiner Anteile durch die Identifizierung des Ichs mit diesen ermöglicht, verfügen.

Das Sein im Für-sich setzt die Fähigkeit voraus, sich als von den Objekten getrenntes Individuum zu erleben. Erst dieses Erleben in der Getrenntheit , jedoch ohne das Gefühl der Verlassenheit, Vereinsamung oder Nichtexistenz der eigenen Person ermöglicht echte Beziehung, echten Kontakt (als tiefgreifende, ganzheitliche, selbstlose Kontaktaufnahme als ein momentanes Eins-sein mit dem Objekt). Nach Winnicott (S. 41) entwickelt sich jedoch diese Fähigkeit zum Allein-sein und des Erlebens als getrenntes Subjekt erst allmählich.

Er beschreibt diese Entwicklung von der (paranoiden) Desintegration des ererbten Potenzials (Es-Impulse, also Triebimpulse, organismische Triebstrebungen) des Ichs hin zum Ich, welches die organismischen Impulse unter geeigneten Bedingungen zu einer Einheit zu integrieren und zu organisieren beginnt. Aus dem Ich entwickelt sich ein Grunderleben als seiendes Ich bin. Und schließlich entwickelt sich hieraus das Ich bin allein als getrenntes komplexes Individuum.

Im Alleinsein ist das Individuum nicht auf die Umwelt bezogen agierend oder reagierend, sondern entspanntes, desintegriertes Subjekt, in welchem die aufsteigenden organismischen Impulse als persönlich real erlebt werden, die dann von einem gegenwärtigen Objekt spiegelnd aufgegriffen und so in das Selbst des Subjektes integriert werden. Das Subjekt muss also allein sein und sich dennoch sicher in der Gegenwart eines versorgenden Objektes befinden. Das Subjekt muss sich selbst als aktiv agierend sowie die Welt kreierend und die Umwelt hingegen auf es selbst reagierend erleben können, ohne dass das gegenwärtige Objekt dem Subjekt das Erleben des Agierens durch verschmelzende Überprotektivität entreißt. Das Subjekt benötigt die anfängliche Identifikation des behütenden schützenden Objektes (Mutter) mit ihm, wodurch die Umwelt derart stimmig auf die Bedürfnisse des Subjektes reagiert, als käme die Befriedigung aus dem Subjekt selbst heraus, ohne zu bemerken, dass es die Unterstützung vom Objekt erhält (mit dem es psychisch noch verschmolzen ist). Dadurch bildet sich ein erstes Ich-Erleben mit Omnipotenzerleben aus. Im weiteren Entwicklungsverlauf der folgenden Lebensmonate ist die oben beschriebene Haltung der Gegenwärtigkeit und Präsenz des Objektes beim Subjekt entscheidend, jedoch ohne dem Subjekt im Zustand seines Omnipotenzerlebens jedes Bedürfnis bereits sofort zu erfüllen, ohne, dass das Subjekt hierfür ein Signal gegeben hat, geben konnte, geben musste. Erst die Notwendigkeit des Subjekts, ein Signal für sein entsprechendes Bedürfnis anzuzeigen (dazu muss das Objekt gegenwärtig sein, ohne mit dem Subjekt identifiziert und noch psychisch verschmolzen zu sein), ermöglich ihm einerseits die Ausbildung der Fähigkeit des Bedürfnisaufschubs (minimale Frustration ist hierzu bzgl. der Bedürfnisbefriedigung in diesem Stadium notwendig) und andererseits die Fähigkeit, sich als Ich bin zu erfahren. Und erst hierauf kann es aufgrund verinnerlichter positiver versorgender Eigenschaften des versorgenden Objekts auch über eine gewisse Zeitspanne ohne das sofort versorgende Objekt allein sein. Sind alle diese Bedingungen gegeben, entwickelt sich nach Winnicott höchst wahrscheinlich ein komplexes, getrenntes und zum Allein-sein befähigtes Individuum, welches sich selbst als freies und nicht als fixiertes bzw. mit einer Selbstrepräsentanz oder gar nur Teilselbstrepräsentanz identifiziertes Für-sich annehmen kann.

Winnicott, D. W. (2006). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, S. 41 f, unveränderte Aufl. der dt. Ausg. Von 1974, Gießen: Psychosozialverlag

Sonntag, 15. Dezember 2013

Die Arbeit mit dem Inneren Kind

Andreas Mensch


Wie vermutlich kein zweites tiefenpsychologisches Konzept stellt das Konstrukt des Inneren Kindes einen sowohl leicht verständlichen als auch psychologisch tiefgehenden psychotherapeutischen Ansatz dar. Mir selbst ist mein Inneres Kind mehrfach und nachhaltig in meiner Lehrtherapie während meiner Ausbildung zum Gestalttherapeuten begegnet. Natürlich interessierte mich – wie so oft – wie sich dieser tiefenpsychologische Ansatz mit den anderen theoretischen Schwerpunkten dieser Textsammlung in Verbindung bringen lässt. Deshalb ist es mir an dieser Stelle ein persönliches Anliegen, hier einen kleinen Exkurs in das Konzept des Inneren Kindes vorzunehmen, da sich hinter dem Inneren Kind inzwischen viele Mythen und Anschauungen verbergen und der Begriff dadurch mittlerweile ziemlich an Klarheit und Prägnanz verloren hat. Daher begab ich mich also selbst auf eine kleine literarische Erkundungsreise und lege nun im Folgenden meine Erkenntnisse dar, natürlich nicht, ohne den Hinweis auf Zusammenhänge mit der Tiefenpsychologie sowie dem Existenzialismus Sartres zu geben. Hier nun also eine allgemeine Einführung in das Konzept des Inneren Kindes.                                                                                 
Das Konzept des Inneren Kindes wurde von verschiedenen Autoren, zu denen auch Erika Chopich und Margaret Paul gehören, populär gemacht. Tiefenpsychologisch betrachtet, stellt das Konzept des Inneren Kindes eine Art vereinfachte Übersetzung verschiedener psychodynamischer Prozesse zwischen innerpsychischen Repräsentanzen dar. Aufgrund dieser vereinfachten tiefenpsychologischen Neubetrachtung und der damit verbundenen zunehmenden Zugänglichkeit auch für andere psychotherapeutische Schulen fand das Konzept des Inneren Kindes auch einen Niederschlag in Theorien wie der Transaktionsanalyse, der Verhaltenstherapie, der Dialektisch-Behavioralen-Therapie, der Systemischen Therapie und nicht zuletzt der Gestalttherapie.       
Definitionsgemäß steht der Begriff des Inneren Kindes allgemein für das innere Erleben von symbolisch im Gehirn gespeicherten Gefühlen, Erinnerungen und Erfahrungen der Kindheit. Hierzu gehören sämtliche starke Emotionen wie Wut, Freude, Trauer, Schmerz und Glück aber auch das Empfinden von Verlassenheit und Angst. Chopich & Paul (2011, S. 19 ff) stellen dem Inneren Kind einen Inneren Erwachsenen gegenüber, der sich ebenfalls ab Beginn der Ontogenese parallel zum Inneren Kind als intrapsychisches Abbild sämtlicher wichtiger Bezugspersonen der Kindheit herausbildet. Sowohl das Innere Kind als auch der Innere Erwachsene können nach dieser Vorstellung zwei völlig verschiedene Qualitäten besitzen. Das Innere Kind kann sich durch seinen verinnerlichten Erwachsenen geliebt oder ungeliebt fühlen. Der Innere Erwachsene kann entsprechend liebvoll aber auch lieblos dem Inneren Kind gegenüber sein. Der Innere Erwachsene besitzt grundlegende Eigenschaften des Handelns, des Tuns sowie des Denkens und soll mit diesen Qualitäten die Bedürfnisse des Inneren Kindes wahrnehmen und auf umweltverträgliche Weise angemessen befriedigen, jedoch dem Kind auch Halt durch Grenzsetzungen geben. Das Innere Kind mit seinen Eigenschaften wie Fühlen, Sein und Erleben soll dem Inneren Erwachsenen eine natürliche Spontaneität, schöpferische Kreativität und Vitalität verleihen. Den Zustand des liebevollen und respektvollen Umgangs zwischen Innerem Kind und Innerem Erwachsenen bezeichnen Chopich & Paul (ebd.) als das Höhere Selbst, in dem Selbstvergessenheit, Freude und Liebe gegenüber sich selbst und anderen empfunden werden können. Das Gegenteil dieses liebevollen und respektvollen Umgangs miteinander bezeichnen sie als das Ego. Es ist jene Instanz, die sich einstellt, wenn das Innere Kind und der Innere Erwachsene sich nicht zuhören dürfen und ihre Bedürfnisse nicht wahrnehmen und erfüllen können aus Angst, für diese verlassen, entwertet, manipuliert oder kontrolliert zu werden. Das Ego versucht dann verzweifelt und in neurotischer Qualität die fehlende Zuwendung des Inneren Erwachsenen gegenüber dem Inneren Kind durch Manipulation der realen Umwelt zu kompensieren, indem es aus dieser die Zuwendung und Anerkennung zu erlangen wünscht. Das Ego verhindert jedoch durch seine Außengerichtetheit eben den liebevollen Kontakt zwischen Innerem Kind und Innerem Erwachsenen und isoliert beide dadurch immer mehr sowohl voneinander als auch gegenüber ihrer Umwelt. Das Ego beabsichtigt einerseits, den Inneren Erwachsenen die Bedürftigkeit des Inneren Kindes und seine eigene Unfähigkeit der Bedürfnisbefriedigung ihm gegenüber nicht spüren zu lassen. Andererseits versucht es auch zu verhindern, dass das Innere Kind seine Ablehnung, seine Abhängigkeit und seine Kontrolliertheit durch den Inneren Erwachsenen wahrnimmt. Mit allerlei falschen Glaubenssätzen versucht der oft lieblose Innere Erwachsene das Innere Kind durch Scham- und Schuldgefühle unter Kontrolle zu halten. Jedoch verliert der Mensch durch die Manipulation seiner Umwelt zum Zwecke der Zuwendung allein aus der Außenwelt immer mehr seinen Zugang zu seiner eigentlich möglichen Vitalität, Spontaneität, schöpferischen Kreativität und Liebe, wodurch der intrapersonelle Konflikt zwischen Innerem lieblosem Erwachsenen und Innerem lieblosem Kind folglich auch zu einem interpersonellen Konflikt durch zahlreiche Projektionen der eigenen unbefriedigten Bedürftigkeit in die Umwelt wird. Im Falle einer Traumatisierung stehen Inneres Kind und Innerer Erwachsener bezüglich einiger Lebensinhalte bisweilen gar nicht mehr miteinander im Kontakt. Die fehlende Liebe zu sich selbst mündet dann in Selbstverachtung, Selbstentwertung, hohe Kränkbarkeit und in ein Verharren in einer grundlegenden Opferhaltung. In gravierenden psychopathologischen Zuständen sind Inneres Kind und Innerer Erwachsener sogar noch miteinander verschmolzen, sodass ein Dialog, geschweige denn ein versöhnender, zwischen Kind und Erwachsenem erst gar nicht möglich ist. Ohne die intrapersonelle Versöhnung zwischen Innerem Kind und Innerem Erwachsenen kann sich entsprechend auch keine versöhnliche und liebevolle Haltung des Menschen gegenüber seiner Umwelt und dadurch auch kein Empfinden einer tiefen Verbundenheit mit dieser einstellen.   
Das Ziel der Arbeit mit dem Inneren Kind ist es also, den Inneren Erwachsenen wieder mit seinem Inneren Kind auszusöhnen, indem er dem Inneren Kind zuhört, ihm Vertrauen in seine Intuition und seine natürliche Weisheit schenkt, ihm aber auch Grenzen setzt und dadurch Halt gibt (vgl. Baulig & Baulig, 2010). Hierzu müssen zunächst die vielfältigen falschen Glaubenssätze des Klienten erfasst und bewusst gemacht werden. Inneres Kind und Innerer Erwachsener müssen Ausdruck in Leib, Denken, Fühlen und Sprechen finden, um sich gegenseitig zu erkennen, zu verstehen und zu spüren, sodass sie sich einander immer mehr annähern können. Sie müssen das jeweilige Wohlwollen in sich selbst und in dem anderen erfahren. Es bedarf demnach einer schrittweisen Aufarbeitung früherer seelischer Verwundungen mit dem Ziel der Rückgewinnung an Eigenverantwortung durch die Reintegration der kindlichen Erlebniswelt ins Erwachsenen-Ich. Dabei soll das positive Erleben aus der Kindheit als Ressource ins Bewusstsein gelangen, damit man sich zunehmend selbst die fehlende Zuwendung aus der Kindheit geben und sich selbst die guten Eltern sein kann, um die Sehnsucht nach Liebe, Anerkennung und bedingungslosem Angenommenwerden vorwiegend aus sich heraus befriedigen zu können.                     
Die gesamte Arbeit mit dem Inneren Kind stellt also eine therapeutische Herangehensweise dar, in welcher das Kind in uns befähigt werden soll, seinen ursprünglich existenziellen Ängsten und Nöten aber auch Bedürfnissen ganzheitlich – das heißt körperlich, sprachlich und emotional – Ausdruck zu verleihen. Die Grundannahme ist die, dass das Kind seine Welt durch manchmal unvermeidbare Störungen aus seiner Umwelt oder auch aus sich selbst heraus wiederholt als existenziell bedrohlich erlebt und Ängste vor Verlassenheit, Isolation, Vereinsamung und nicht zuletzt vor dem Sterben-müssen empfunden hat. Erst wenn dem Inneren Kind von seinem Inneren Erwachsenen tiefgehend und ernsthaft Gehör geschenkt wird, können auch die existenzphilosophischen Erkenntnisse des Inneren Erwachsenen mit kognitiver Qualität als Unterstützung für das Innere Kind vom Organismus assimiliert werden. Andernfalls bleiben die existenzphilosophischen Erkenntnisse fruchtlose und einfach nur leere geistige Hülsen, hinter denen sich der lieblose Innere Erwachsene versteckt, abkapselt und vor seinem Inneren Kind verschließt.



Das Innere Kind in der Tiefenpsychologie


Allgemein ist festzustellen, dass die konstruktiven Qualitäten des Inneren Kindes in der klassischen Psychoanalyse kaum Niederschlag und Beachtung finden. Vielmehr werden sogenannte infantile und regressive Qualitäten eher als destruktiv und archaisch-triebhaft bewertet wie beispielsweise im Falle des Freud’schen Es. Dagegen werden ge- und verbietende elterliche Qualitäten beispielsweise durch das Freud’sche ÜberIch beschrieben und besitzen in ihren Definitionen wenig liebevolle elterliche Fürsorge- und Verantwortungsqualitäten. Dennoch soll an dieser Stelle in einem kurzen Exkurs auf einige Teilgebiete der Psychoanalyse eingegangen werden, in denen innere widerstreitende Instanzen eine wichtige Rolle spielten und noch spielen.



Objekteinverleibung nach Freud


Nach Sigmund Freud (1998) besteht der Mensch in seiner Identität aus der Gesamtheit der ihm vorgelebten Identitäten durch Personen seiner Umwelt. Mit der Differenzierung von Es-Ich-ÜberIch vollzog Freud innerhalb der Psychoanalyse eine theoretische Vertiefung mit dem Fokus auf das Ich und seine Funktionen. Für die Charakterproblematik bedeutet dieses Konzept von der Internalisierung der Objekte in die ÜberIch-Instanz des Subjekts eine ganz neue Perspektive. Freud unterteilte die Psyche vorerst einerseits in ein bewusstes und vorbewusstes Ich und andererseits in ein unbewusstes triebhaftes Es. Das Ich ist ein der Außenwelt zugewandter und an sie angepasster Teil des Es und gehorcht dem Realitätsprinzip. Das Es dagegen gehorcht einzig dem Lustprinzip, also dem Auf- und Abbau von Triebspannung. Nun können aber auch Teile des Ichs nicht nur vorbewusst, sondern gänzlich unbewusst sein. Von diesen geht dann der Widerstand gegen die Aufdeckung unbewusster Inhalte aus. Freud bezeichnete diesen unbewussten Ich-Anteil als ÜberIch oder Ichideal. Dieser ist durch die ursprüngliche Identifizierung mit dem versorgenden Objekt der frühesten Kindheit entstanden, also vor allem durch die orale Einverleibung der Mutter durch das Stillen. Generell ist das Ich der Niederschlag frühster Objektidentifikationen beziehungsweise Einverleibungen oder Introjektionen. Folglich wird die Libido gleichzeitig auf das Objekt und, wenn es einverleibt wurde, auf das Subjekt gerichtet.



Charakterpanzerung Reichs


Der Charakter basiert nach Wilhelm Reich (1999) auf der Historie, der auf den Organismus einwirkenden Umweltbedingungen (Wünsche und Verbote der Bezugswelt), welche sich ihrerseits den Triebansprüchen als Widerstände entgegenstellen. Die sich gegen Triebstrebungen aufbauenden Widerstände werden vom Ich kontrolliert. Die durch die individuelle Entwicklung chronifizierten Reaktionsweisen eines Organismus auf seine Umwelt bezeichnet Reich als Panzerung. Der Charakterpanzer schützt durch Libidostauung einerseits vor Unlusterfahrung, sorgt jedoch andererseits gleichsam für Lustgewinn mittels eines gewissen Maßes an Beweglichkeit zur Gewährung libidinöser Interessen durch Kommunikation mit der Umwelt. Die Bewältigungsform ist jedoch bereits durch die vorödipale Zeit bestimmt. Das Ich kann sich mit der strafenden Person zum eigenen Schutze identifizieren und es vermag, die gegen das versagende Objekt gerichtete Aggression gegen sich selbst zu richten. Bei Freud wäre dies das ÜberIch. Nach Reich ist für die Art des Charaktertyps besonders das Geschlecht der Erziehungsperson von Relevanz. Jungen sind in der Regel mit dem Vater, Mädchen dagegen mit der Mutter identifiziert. Folglich bekommen Jungen ein phallisches oder anales ÜberIch, Mädchen jedoch ein passiv-feminines. Bei einem unzureichend gelösten Ödipuskomplex verändern sich nun aber die Identifizierungen. Mädchen werden dann eher genital-hysterisch oder männlich hart, Jungen dagegen eher phallisch narzisstisch oder passiv feminin. Noch mehr als Freud betont Reich die Bedeutung der Umwelteinflüsse durch eine konflikthafte Eltern-Kind-Interaktion für die Genese des Charakters. Hereditären Bedingungen räumt er eine noch wesentlich geringere Bedeutung ein als Freud. Das Konzept der Charakterpanzerung erweiterte Reich später noch um die muskuläre Panzerung, nach der psychische Anspannung zu muskulärer Anspannung führt, um Angst in dieser Körperspannung somatisch zu binden. Der Körperpanzer bildet demnach die somatischen Korrelate neurotischer Konflikte.




Ich-Zustände Fairbairns


Insbesondere W. R. D. Fairbairn (2007) entwickelte das Freud’sche Instanzenmodell (Ich, Es und ÜberIch) entscheidend weiter. Hiernach verinnerlicht man nun in seiner psychischen Reifung gute und schlechte Objekte seiner Umwelt zu einer endopsychischen Struktur verschiedener Ichzustände und deren Objektbesetzungen. Fairbairn unterscheidet zwischen beobachtendem Ich (zentrales Ich), angreifendem Ich (angreifender innerer Saboteur) und angegriffenem Ich (libidinöses Ich). Das angreifende und das angegriffene Ich sind Teile des zentralen Ichs. Das angreifende böse Ich verbündet sich mit dem verinnerlichten bösen und aggressiv-versagenden Objekt gegen das gute libidinöse Ich und das gute liebevoll-gewährende Objekt. Die Quantität und Qualität des inneren Konfliktes zwischen den Ich-Zuständen bilden dann die Quelle einer neurotischen Konfliktbewältigung mit sichtbaren psychischen Auffälligkeiten.



Teil-Selbst- und Teil-Objektrepräsentanzen Kernbergs


Nach Otto F. Kernberg (1998) verinnerlicht der Mensch durch reale frühkindliche Objektbeziehungen sogenannte Objekt- und Subjektrepräsentanzen. Das Kind gewinnt ein typisches verinnerlichtes Bild von den Personen seiner Umwelt (Objektrepräsentanzen). Nach diesen verinnerlichten Erfahrungen seiner Umwelt betrachtet es auch spätere Objekte aus dieser primären frühen Objekterfahrung heraus. Die frühen Objekte spiegeln dem Kind ein Bild von sich zurück, welches es ebenfalls verinnerlicht (Selbstrepräsentanz). Und so betrachtet sich das Kind in seiner weiteren Entwicklung dergestalt, wie es von seinen frühesten Bezugspersonen gespiegelt wurde. Die intrapsychische Organisation besteht also idealerweise aus vollständigen (ungespaltenen) und ausgeglichenen Selbst- und Objektrepräsentanzen auf dem ödipalen psychosexuellen Entwicklungsniveau im ÜberIch.



Transaktionsanalyse Bernes


Nach Erik Berne (vgl. Kriz, 2001) geht das Strukturmodell der Persönlichkeit von drei grundlegenden Ich-Zuständen aus, die bis zum zwölften Lebensjahr ausgereift sind:                
Das Kind-Ich (K2) wird bis zum dritten Lebensjahr ausgebildet und steht für spontane und unkontrollierte Gefühlsregungen und Wünsche in Form regressiver und frühkindlicher Relikte.                                                                           
Das Eltern-Ich (El2) wird bis zum sechsten Lebensjahr ausgebildet und steht für ungeprüfte internalisierte Normen und Werte als Vorurteile entsprechend den Eltern.                        
Das Erwachsenen-Ich (Er2) wird bis zum zwölften Lebensjahr ausgebildet und steht für die kognitive Verarbeitung aller Einflüsse aus der Umwelt, aus dem Eltern-Ich und dem Kind-Ich in Form einer Konsolidierung und Realitätserprobung. Es entsteht idealerweise eine vernünftige Re- und Aktionsweise auf die Umwelt und sich selbst.

Das Kind-Ich ist nochmals in drei Ich-Zustände gegliedert, die im dritten Lebensjahr abgeschlossen sind:                        
Das ,Somatische’ Kind (Kind-Ich (K1)) wird bis zum achten Lebensmonat ausgebildet und steht für Grundgefühle, Grundbedürfnisse und das Drängen nach deren sofortiger Befriedigung.                                                                        
Der ,Kleine Professor’ (Erwachsenen-Ich (Er1)) wird bis zum ersten halben Lebensjahr ausgebildet und steht für das neugierige und spontane Erforschen der Umwelt.                     
Die ,Elektrode’ (Eltern-Ich (El1)) wird bis zum dritten Lebensjahr ausgebildet und steht für Anpassung an Anforderungen sowie übernommene Handlungs- und Bewertungsmuster der Eltern.


Alle Ich-Zustände sollten klar voneinander abgegrenzt aber miteinander kommunikativ sein. Abspaltungen unter den Ich-Zuständen werden als zunehmend psychotisch beschrieben, Verschmelzungen dagegen als neurotisch. Die Ich-Zustände kommunizieren immer mit den Ich-Zuständen anderer Menschen als sogenannte Transaktionsmuster oder Skripts, wobei man meistens aus einem bestimmten Ich-Zustand eine Botschaft sendet und das Gegenüber wiederum aus einem bestimmten Ich-Zustand antwortet. In den Skripts werden Botschaften meist unbewusst zum Gewinn von Zuwendung vom Gegenüber an dieses gesendet. Dort lösen sie durch diese unbewusste Manipulation oft typisch vorhersehbare Antworten aus. Das klassischste Transaktionsmuster ist das Rollenspiel Opfer-Verfolger-Retter, welches in allen Gruppen als Phänomen anzutreffen ist. Jeder dieser Rollenvertreter hat einen Gewinn von seiner Spielerposition, bei der es immer um das Erlangen von Zuwendung geht. Das einfachste und idealtypische Skript ist das: „Ich bin O.K. – Du bist O.K.“



Das Innere Kind in der Gestalttherapie


Um das Innere Kind in der Theorie der Gestalttherapie überhaupt fassen zu können, muss hier kurz näher auf das Konzept des Selbst, des Ich, des Es und der Persönlichkeit eingegangen werden.                                                              
In der Gestalttherapie gibt es eigentlich keine differenzierte begriffliche Verortung des Inneren Kindes. Dennoch wird es in dieser Therapieform oft verwendet und existiert unter verschiedenen Namen.



Das Selbst


Das Selbst (vgl. Goodman, Hefferline & Perls, 2006, S. 31 ff, 210 ff) bildet die grundlegend integrierende, kreative, spontane und schöpferische Funktion und stellt im Unterschied zur Psychoanalyse keine starre und substanzielle Instanz dar! Es ist demnach weder Subjekt noch Objekt (vgl. De Martino) und entspricht – in existenzphilosophische Begriffe übersetzt – dem substanzlosen und leeren präreflexiven Cogito Sartres, welches den Menschen in seinem substanzlosen Für-sich belässt und ihn nicht zu einem substanziellen An-sich-Für-sich machen kann. Das Selbst ist somit reine Erscheinung und wird nur dann bewusst, wenn es an der Organismus-Umweltgrenze beim natürlichen Assimilationsprozess auf innere oder äußere Widerstände stößt. Es ist im Grunde ähnlich dem Paradox des Lichtes, welches sowohl energetische Welle als eine Art mathematische Funktion als auch Teilchen zugleich ist. Sartre (2006, S. 27) beschreibt es wie folgt: „Das Bewußtsein hat nichts Substantielles, es ist eine reine Erscheinung, insofern es nur in dem Maß existiert, wie es sich erscheint. Aber gerade weil es reine Erscheinung ist, weil es eine völlige Leere ist (da die ganze Welt außerhalb seiner ist), wegen dieser Identität von Erscheinung und Existenz an ihm kann es als das Absolute betrachtet werden.



Das Ich


Das Ich wiederum ist das System aller Identifizierungen des spontan gestaltenden Selbst mit sämtlichen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Biografie. Das Ich identifiziert sich normalerweise mit den jeweils ganz aktuellen organismischen und psychischen Bedürfnissen. Die Identifizierungen sind neben neuen und unbekannten Inhalten, die zum Wachstum assimiliert werden, sehr oft auch Qualitäten erlebter Kontaktprozesse mit motorischer, emotionaler, wahrnehmender und handelnder Qualität. Diese alten Identifizierungen wurden einst als Figuren zu ungeschlossenen Gestalten im Hintergrund und wirken aus diesem heraus auch aktuell unbewusst weiter. Das Ich als eingeschränkte Identifikation des Selbst zieht oder bremst das Selbst neurotisch in die einstigen sozialisierten aber eben eingeengten Bahnen. Diese offenen Gestalten beziehungsweise alten Identifizierungen des Selbst mit alten Inhalten können als Innere Kinder und Erwachsene betrachtet werden. Das Ich ist also der Zustand der Identifizierung mit physischen, emotionalen oder gedanklichen Inhalten aus dem Organismus-Umweltfeld (Figur). Dabei ist es absichtsvoll, sensorisch wach, motorisch aggressiv, sich seiner selbst bewusst und kann auch als momentan und spontan fokussiertes Interesse des Selbst mit dem Ziel der Gestaltschließung beschrieben werden. Im Moment des Kontakts des Organismus mit seiner Umwelt erlischt das Ich und es existiert nur noch das selbstvergessene Selbst. Gestört ist der Assimilationsprozess, wenn das neurotische rigide Ich dem Selbst in seiner natürlichen differenzierenden und integrierenden Funktion im Wege steht. Perls (2007, S. 168) unterscheidet zwischen dem gesunden Ich, welches die spontane Identifizierung als eine Funktion des Selbst bildet und eben keine Substanz ist, und dem kranken Ich, welches aus dem Empfinden einer starren und überdauernden substanziellen Identifikationen (Introjekten) besteht. Introjekte sind also zum einen Bestandteile des erstarrten ungeliebten Inneren Kindes und zum anderen Bestandteile des erstarrten lieblosen Inneren Erwachsenen.   Grundsätzlich führen jedoch die ersten Subjekt- und Objekterfahrungen des Organismus während seiner Ontogenese in seinem Organismus- Umweltfeld zu innerpsychischen Niederschlägen in Form von Introjekten. Erst der zunehmende Grad der Verfestigung und Rigidität solcher unreflektierten Introjekte bildet dann den Übergang zur Kontaktstörung.



Das Es


Das Es ist im Kontakt das materielle Spüren des Produkts der Begierde. Es ist der latente Antrieb aus dem Hintergrund und beinhaltet die unerledigten Situationen und undifferenzierten Gefühle und Körpersensationen. Es tritt irrational, konfus und passiv als Hintergrund hervor, wenn das Selbst nicht im Kontakt und geschwächt bis zerfallen ist. Kleine unerledigte Situationen werden im Es durch Halluzinationen an der Kontaktgrenze befriedigt, wie beispielsweise im Traum, in dem der Mensch zur Erholung schlafend gehalten werden soll und dennoch innere Assimilationsprozesse ablaufen müssen.



Die Persönlichkeit


Die Persönlichkeit ist das System der Haltungen in Beziehungen. Es steht für die wiederkehrende herausgebildete unerledigte Gestalt als Figur aus dem Hintergrund, welche die typischen Identifizierungen des Ichs bildet. Die Persönlichkeit ist sich selbst bekannt und man hat mit ihr einen Vertrag, wie und wer man ist. Sie ist durch eine gewisse Rigidität häufig durch neurotische Beziehungen gekennzeichnet sowie durch fehlerhafte Selbstkonzepte, Introjektionen, Ichideale und Masken.



Das Ziel der Gestalttherapie


Das Ziel der Gestalttherapie ist es, die erstarrten und für substanziell gehaltenen Masken, Introjektionen und Selbstkonzepte physisch, psychisch und emotional zu aktivieren, sie zu beleben und dadurch miteinander in Kontakt treten zu lassen. Diese Aktivierung der inneren Repräsentanzen (Topdog, Underdog, Innerer Erwachsener, Inneres Kind) und die dadurch ermöglichte gegenseitige Mitteilung ihrer unerfüllt gebliebenen lebenswichtigen organismischen Bedürfnisse sollen durch die integrierende Funktion des Selbst zunächst eine Assimilation wachstumsfördernder Inputs und anschließend auch die Ausstoßung wachstumshinderlicher Einflüsse ermöglichen – also ein gesundes organismisches Verdauen. Das Selbst soll aus seinen neurotischen und biografisch geprägten Ego-Fixierungen befreit werden, damit es als freie und ganzheitliche Funktion wieder den gesamten Organismus steuern und so auch wieder Teil am Gesamtorganismus und am Leben allgemein haben kann. Neue Erfahrungen sollen demnach durch das Selbst als Kontaktgrenze in Aktion im Feld zu bisherigen Identifizierungen assimiliert werden können, um ein Wachstum zu ermöglichen. Das Selbst soll aus seinem mittleren Modus heraus in die Lage versetzt werden, spontan, kreativ, schöpferisch und frei über seine Identifizierungen im Feld entscheiden und verfügen zu können. Die Bewusstmachung der unbewussten erstarrten Identifizierzungen des Ich – des Ego – befreit den Organismus zunehmend von seinem neurotisch einengenden Habensmodus hin zu einem grundlegenden Seinsmodus. Im neurotischen Egomodus kann sich der Organismus infolge einer therapeutischen Behandlung dann mehr und mehr seinem Selbst anvertrauen und zu seinem im Kontaktzyklus fließenden Selbst werden. Damit der Mensch also Selbst und damit kontaktfähig mit seiner Umwelt werden kann, muss er in seiner Entwicklung zunächst einmal innere Ganzheit und, daran anschließend, auch vom Objekt getrennte Subjektheit erfahren. Ganzwerdung wird durch bedingungslose Liebe aus der Umwelt ermöglicht; Getrenntheit wiederum durch integrierte abgrenzende Aggression, ohne Angst, sein Gegenüber hierdurch irgendwie zu verlieren. Das Maß des inneren Ganzheitserlebens ist sowohl bestimmt durch das Maß der durch Liebe integrierten inneren Anteile als auch durch das Maß der mittels Aggression abgegrenzten äußeren schädlichen Einflüsse, also letztlich von der individuellen Autonomieentwicklung. Bedingungslose Liebe und gesunde Aggression sind demnach die Voraussetzung für die eigene Getrenntheit vom Gegenüber und somit auch die Bedingung für echten Kontakt mit der Umwelt als integriertes Leib-Seele-Gefüge.

 

Unterschiede zur Psychoanalyse


Einen sehr deutlichen Unterschied zum psychoanalytischen Konzept stellt die bereits erwähnte Funktion des Selbst dar, welches sich nur im Kontakt klar herausbildet, in welchem sich der Organismus spüren kann (Goodman, Hefferline & Perls, 2006, S. 76 ff, 226 ff). Es ist eine reine organismische Funktion und stellt eben keine psychische Instanz dar. Das Ich ist nur die jeweilige aktuelle und zeitlich begrenzte Identifizierung des Selbst mit alten und neuen Figuren.                   
Einen weiteren wichtigen Unterschied bildet die therapeutische Herangehensweise, die auf dem Grundvertrauen in das Selbst basiert und alle Dimensionen des Seins (Organismus, Denken, Handeln, Fühlen, Sprache) beinhaltet. Es ist dies das Grundvertrauen in das Leben und in seine übergreifende gesamte Verbundenheit sowie Zielgerichtetheit. Demnach befindet sich alles Lebendige in einem Organismus-Umweltfeld (vgl. Goodman, Hefferline & Perls, 2006, S. 26 ff) wie beispielsweise der Säugling, der nach seiner Geburt eben nicht ohnmächtig und willkürlich der Welt ausgesetzt ist, wie es die Psychoanalyse postuliert, sondern der seine Umwelt im Feld entsprechend seinen eigenen Bedürfnissen manipulieren (Schreien, Zeigen, Greifen und anderes) kann, da seine Mutter als Teil seines Feldes zu ihm gehört und auf ihn biologisch veranlagt reagieren muss.



Die Bedeutung innerer Repräsentanzen für unser Leben


Die bisherigen Darstellungen haben gezeigt, dass wir in unserem täglichen Leben ständig zwischen unseren verschiedenen inneren psychischen Instanzen – dem geliebten Kind, dem ungeliebten Kind, dem liebenswerten Erwachsenen und dem lieblosen Erwachsenen – hin und her wechseln und, je nach Ausprägungsart der psychologischen Symptomatik, sogar rasant zwischen diesen oszillieren oder sogar in ihnen starr verharren.                                                            
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal etwas weiter ausholen und meine Beobachtungen hinsichtlich der möglichen phänomenologischen Bedeutung sämtlicher religiöser und spiritueller Rituale schildern. Speziell ist hier der Zustand einer allgemein angestrebten Ausgewogenheit zwischen den Repräsentanzen des liebevollen Erwachsenen und des geliebten Kindes interessant. Mir wurde bei der genaueren Beobachtung und bei dem Vergleich verschiedener Rituale in den Religionssystemen deutlich, dass es sich hierbei wahrscheinlich bei allen um ein liebevolles Einkehren in sich selbst im Zustand der Gnade und des Mitgefühls mit sich selbst handelt. Ich behaupte, dass wir innerpsychische Prozesse oft nur projiziert im Außen im Interpsychischen oder allgemein in der physischen Umwelt bewusst erfahren können, da wir einen Abstand zu unseren Wesenszügen haben müssen, um sie als Subjekt von außen bewusst wahrnehmen zu können. Eine Alternative hierzu bildet vielleicht noch die Meditation, in welcher man möglichst in einem Zustand der Subjekt-Objekteinheit verharrt. Aber selbst hierbei müssen zumindest geringe Kernpersönlichkeitszüge von einem selbst zuvor mit einem gewissen Abstand bewusst erfahren worden sein, um aus diesen heraus wie von einer Insel innerpsychisch eine differenzierende beobachtende Haltung einnehmen und den beobachteten Inhalt auch wieder integrierend loslassen zu können. Unsere intrapsychischen Instanzen oder Repräsentanzen können häufig nur dann miteinander in eine wirksame bewusste Kommunikation treten, wenn sie zunächst aus dem unbewussten Innerpsychischen in die Objektumwelt hineinprojiziert und dort manipuliert werden können (durch Reden, Denken, Berühren oder Fühlen beeinflussen). Ursprünglich stammen die zu unserer Persönlichkeit verinnerlichten innerpsychischen Repräsentanzen ausschließlich aus der Objektwelt, nämlich von unseren prägenden Bezugspersonen und der Verinnerlichung ihrer Wesenszüge. Unser Selbst ist also ein buntes Sammelsurium verinnerlichter Eigenschaften der Personen unserer frühsten und frühen Umwelt. Erst nach einem Mindestmaß der Verinnerlichung äußerer Personeneigenschaften zu sogenannten inneren Selbst- und Objektrepräsentanzen (Gestalten) etwa Mitte des zweiten bis vierten Lebensjahres der Ontogenese können wir dann zwischen den verinnerlichten Selbstanteilen auch hin und her wechseln und aus diesen heraus die jeweils anderen Selbstanteile aus einem gewissen inneren Abstand heraus betrachten. Das stellt die Grundvoraussetzung für das Einnehmen eines inneren Abstandes zu sich selbst und damit für eine gewisse Selbstbewusstheit dar. Ohne diese ,Bewusstseinsinseln’ ist also keine Selbstbewusstheit und damit auch keinerlei Selbstreflexion und Erinnerung möglich. Die in den ersten drei Lebensjahren zu Selbstanteilen verinnerlichten Repräsentanzen führen also in dieser Zeit noch keinen rein kognitiv bewusstseinsfähigen innerpsychischen Dialog, sondern kommunizieren als zum Teil noch miteinander verschmolzene Teilrepräsentanzen überwiegend auf emotional-vegetativer Ebene. Allerdings prägen uns diese kognitiv nur schwer oder sogar kaum zugänglichen ersten Lebensjahre psychisch grundlegend im Denken, im Fühlen, im Wahrnehmen, im Reden und letztendlich auch im Handeln entsprechend unserem damaligen Organismus-Umwelt-Feld (der Mensch als Organismus in einem hoch komplexen System aus Faktoren wie Eltern, Geschwister, Klima etc.). Wenn also die Kommunikation meistens unbewusst in uns selbst stattfindet und damit auch Kommunikationsmuster wie depressive oder schizoide Selbsterniedrigungen bis hin zu autoaggressiven Handlungen stattfinden, dann ist man also in vielen Fällen dieser unbewussten Selbsterniedrigung aber auch der Selbsterhöhung und den aggressiven Reaktionen unserer inneren Instanzen zunächst hilflos ausgeliefert solange wir nicht mit einer anderen Person oder einem anderen Objekt in Kontakt und Beziehung treten, welches für uns dann die entlastende gegenteilige Objektrepräsentanz für unser beispielsweise erniedrigtes und ungeliebtes Inneres Kind oder den erniedrigenden und lieblosen Inneren Erwachsenen einnimmt. Es braucht hier die Trennung eigener Persönlichkeitsanteile durch deren Projektion auf die Objektumwelt. Nur wenn in der Umwelt ein Objekt oder eine Person die ihm übertragene Komplementärrolle zu unserem aktuell besetzten inneren Anteil übernimmt, kann die sonst unbewusste Kommunikation bewusster stattfinden und der Konflikt zwischen den Instanzen ausgetragen werden. Manchmal werden auch gleich beide inneren und widerstreitenden Repräsentanzen (Innerer liebloser Erwachsener und Inneres ungeliebtes Kind) auf Personen der Objektumwelt übertragen, um an diesen stellvertretend für den innerpsychischen Konflikt den ,Kampf’ auszuagieren. Im Grunde bewegen wir uns alle in der Umwelt ständig in einem unbewusst inszenierten Übertragungsfeld unserer eigenen Projektionen und denen aller anderen im Feld befindlichen Personen. Die unbewussten innerpsychischen Instanzen treten also durch ihre Übertragung auf die Objektumwelt als sichtbare Figuren (Reinszenierungen) aus dem unbewussten Hintergrund des Subjektes hervor auf eine für andere aber eben nun auch für einen selbst sichtbare Bühne. Im Übrigen übertragen wir alle innerseelischen Repräsentanzen in unsere Umwelt, bearbeiten sie dort als Identifizierungen mit bestimmten Objekten und reintrojizieren sie anschließend wieder als veränderte Objekte zu veränderten Introjekten. So kann Innerseelisches beispielsweise in eine äußere offene Landschaft, in eine ganz bestimmte Naturformation, in Symbole, in eine Melodie, in einen Film oder auch in ein Kunstwerk fließen, um von der äußeren Umwelt durch die eigene Identifizierung mit den Objekten geweitet, harmonisiert, geformt, zentriert, angereichert, naturiert oder in anderer Form verändert zu werden und dann in anderer und für den Organismus seelisch verträglicherer und nützlicherer Form wieder in den Organismus assimiliert zu werden. So kann beispielsweise das offene und weite Meer zu einem wohltuenden Teil von uns selbst werden oder auch die zentrierte Bergspitze eines Gebirges. Das Hinausverlagern und Reintegrieren eigener Anteile tun wir übrigens alle ständig in einem ganz natürlichen fortlaufenden Gestaltöffnungs- und Schließungsprozess. Die Wirkung dieses Vertragens und Versöhnens mit den hinausverlagerten Objekten wird jedoch nicht einfach durch das Zutagetreten der sich widersprechenden Selbstrepräsentanzen erzielt, sondern immer durch ein neutrales und unabhängiges spiegelndes ,Drittes’, welches als ein positives Selbstobjekt die Rolle des Vermittelnden einnimmt. Zur Selbstwerdung und Selbsterkenntnis benötigt man ein liebevoll zugewandtes aber auch abgegrenztes ganzheitliches ,Du’ – statt einem bloßen ,Es’ – , ein Gegenüber oder auch Selbstobjekt, in dessen Gegenwart und Präsenz man sich seines Selbst bewusst und so im Sinne Bubers zum ,Ich’ werden kann. Hierzu zählen vorübergehend beispielsweise der Therapeut, der Mediator, der Supervisor oder aber auch in höchster Instanz das unaussprechliche ,Du’ des Lebens als ein eigenständiges einzigartiges Selbst jenseits alles Menschlichen (vgl. Buber, 2009). Bei innerseelischen Konflikten zwischen verinnerlichten Repräsentanzen von früheren Bezugspersonen sind es also die Inneren Kinder und Erwachsenen, die auf reale Personen der aktuellen Umwelt übertragen werden. Dort, sofern sie unter Nichtberücksichtigung der Realanteile der Übertragungsobjekte als rein übertragene Selbst- und Objektrepräsentanzen identifiziert werden, wird dann auch die spezifische und zuvor unbewusste Kommunikationsqualität deutlich erlebbar. Wir benötigen also eine oder mehrere Personen oder Gegenstände unserer Umwelt als Übertragungsobjekte, an dem oder denen wir unsere inneren unbewussten Konflikte zwischen Kind-Ich und Erwachsenen-Ich stellvertretend für unsere innerpsychische Kommunikation erlebbar machen und mittels eines Hilfs-Ichs – einem Du –, welches uns bei der Reintegration behilflich ist, austragen und auch klären können. Wenn man also durch verschiedene Auslöser aus der Umwelt (Enttäuschungen, Kränkungen, Angst vor Objektverlust, Existenzangst…) in die Teilselbstrepräsentanz des ängstlichen, aggressiven oder depressiven ungeliebten Kindes rutscht, welches von der verinnerlichten Teilobjektrepräsentanz des lieblosen, kontrollierenden und entwertenden Erwachsenen angegriffen wird, dann benötigt man die liebevolle, zuversichtliche, schützende, mutige und weise Teilobjektrepräsentanz des liebevollen Inneren Erwachsenen, welcher einem dann innerlich liebevoll, ermutigend und aufbauend zuspricht, bis man sich wieder im Modus des Höheren Selbst als ein Ganz- und Vollständigsein des Individuums (vgl. Chopich & Paul, 2011, S. 52 ff) im Zustand der inneren Versöhnung und Liebe zwischen den sich zuvor bekriegenden Instanzen des ungeliebten Inneren Kindes und des lieblosen Inneren Erwachsenen befindet. Wenn jedoch – wie es bei den sogenannten Frühstörungen der Fall ist – dieser Innere liebevolle Erwachsene so gut wie nie existierte oder existiert und es stattdessen nur einen lieblosen Inneren Erwachsenen in einem gibt, dann bleibt man in seinem verängstigten und minderwertigen ungeliebten Kind-Ich regelrecht gefangen und mit dem lieblosen Inneren Erwachsenen verschmolzen. Man kann ohne den Inneren liebevollen Erwachsenen im Außen wie später auch im Innen kein Inneres geliebtes Kind entwickeln und verbleibt somit auf der Entwicklungsstufe fragmentarischer widersprüchlicher Teilselbst- und Teilobjektrepräsentanzen – also auf der Stufe eines gespaltenen und unvollständigen Selbst, welches in diesem Zustand keine Chance hat, sich mittels seiner gesunden abgrenzenden Aggression (Autonomiestrebung) zu einem einzigartigen abgegrenzten und beziehungsfähigen Individuum zu entwickeln, denn es weiß nicht wohin mit seiner Aggression, da sein Gegenüber entweder nicht zur Verfügung steht, es die Aggression nicht aushält und zusammenbricht oder sogar aggressiv und bedrohlich reagiert, was die frühe Beziehung im existenziellen Abhängigkeitserleben gefährden würde. Hieraus ergibt sich auf kognitiver Ebene oftmals eine rein logisch-kühle, philosophisch-existenzialistische und weltentrückte Grundhaltung. Je nach Qualität und Quantität der frühkindlichen Umwelterfahrungen haben manche eine stärker ausgeprägte liebevolle Erwachsenenrepräsentanz oder eben auch nicht. Fehlt der liebvolle Innere Erwachsene oder ist er zu schwach ausgeprägt und leidet das Innere Kind hierdurch vorwiegend unter seinem Ungeliebtsein, dann braucht man eine außerhalb seiner selbst verortete Instanz, die einem anstelle des liebevollen Inneren Erwachsenen in uns Mut, Zuversicht und bedingungslose Liebe von außen zuspricht. Hier setzt nun eine mögliche grundlegende Bedeutung der Religionen ein.                  
Wenn man sich nun beispielsweise das Christentum und insbesondere die katholische Ausrichtung dieser Religion etwas genauer anschaut, dann fällt auf, dass, neben Jesus Christus, ganz speziell hier die Symbolfigur der Maria mit ihrem kleinen Jesuskind im Arm sowie weitere unzählige weise Heilige verehrt werden. Und auch der Aspekt, dass alle transzendenten Instanzen (Götter) in den verschiedenen Religionen in besonders regressionsfördernd gestalteten und geschützten Gebäuden verehrt werden, stellt eine unübersehbare Gemeinsamkeit zwischen den Religionen dar. Was bedeuten nun aber diese weisen, schützenden und bedingungslos liebenden und vergebenden Heiligen und Götter? Und warum werden sie in geschützten und vor allem andächtig stimmenden Gebäuden verehrt und angebetet?                                
Alle Sakralbauten, vom Tempel über die Moschee bis hin zur Synagoge und Kirche, stellen in die extrapsychische Umwelt hineinprojizierte Verkörperungen ursprünglich innerseelischer Räume und Repräsentanzen dar. In der Ungestörtheit der Ruhe und in dem Schutz vor bösen ,Eindringlingen’ des Inneren lieblosen Erwachsenen kann hier im Zwischenraum des neutralen ,Dritten’ und ,Du’ Zwiesprache als echter innerer Kontakt zwischen dem ungeliebten Inneren Kind und dem liebevollen Inneren Erwachsenen gehalten werden, ohne dass der lieblose Erwachsene das Wort ergreift und in die Entwertung gehen kann. Dieser sonst so dominante und mächtige lieblos-diabolische Erwachsene hat hier in den ,geweihten’ sakralen und neutralen psychischen Innenräumen, in denen die reine Lebenskraft im Kontakt ungehindert strömt, keinen Zutritt. Und nur im Schutz dieses Innenraumes ohne die Bedrohung und Übermacht des Inneren lieblosen Erwachsenen kann sich das Innere geliebte Kind im Schutze des ,Du’ dem Inneren liebevollen Erwachsenen auch zeigen und ihm als strömende pure, vitale und spirituelle Lebenskraft zur Seite stehen. Der sonst unbewusste und durch die Präsenz des übermächtigen lieblosen Inneren Erwachsenen dominierte intrapsychische Kontakt kann auf diese Weise zu einem liebevollen und bewussten Kontakt zwischen dem liebevollen Inneren Erwachsenen und dem sonst so ungeliebten Inneren Kind werden. Das angestrebte Ziel dieser geschützten interpsychischen Zwiesprache ist letztendlich immer wieder der intrapsychische Zustand der Liebe und Versöhnung mit sich selbst durch die Gnade, die man sich selbst aus sich heraus aus der Instanz seines Inneren liebevollen Erwachsenen gibt. Nur hier strömt das Leben in all seiner Vielfalt, Kraft und Durchdringung als ein vollständiges, abgegrenztes und beziehungsfähiges autonomes Selbst.                                                             
Allerdings besteht meines Erachtens beim bloßen unreflektierten Praktizieren religiöser und spiritueller Rituale rasch die Gefahr, dass die projizierten zunächst widerstreitenden und dann versöhnten Repräsentanzen im Außen der heiligen Figuren, Schreine und Gotteshäuser wie hole Götzen verortet bleiben, anstatt sie bewusst als durch das Ritual veränderte Repräsentanzen – Selbstobjekte (vgl. Jacobs, 2013) – nun psychisch zu einem ganzheitlichen Selbsterleben zu reintegrieren. Das Gefühl der Erleichterung und Begnadigung nach einem solchen religiösen oder spirituellen Ritual, bei dem es zunächst um reine Identifizierung mit einer spirituellen Symbolfigur geht, entsteht durch die anschließende verinnerlichte Gnade und durch das von außen aufgenommene Wohlwollen einer für den liebevollen Inneren Erwachsenen stellvertretenden Autorität gegenüber dem Inneren Kind, welches sich nun zumindest für eine gewisse begrenzte Zeit als geliebt, ermutigt und gestärkt empfindet und somit über seine kindlichen Qualitäten der Freude, der Ausgelassenheit, der Kreativität und der unbeschwerten Lebenslust verfügt. Und diese Gnade kann natürlich aus der Objektumwelt nicht von jeder beliebigen Person erteilt oder von dieser angenommen werden. Die Kriterien sind streng und setzen voraus, dass eine erlösende Instanz dergestalt in Gänze und Vollkommenheit gut und damit rein sein muss, wie man einst die elterlichen Vorbilder empfand. Die Gnade schenkende Autorität muss zum Gelingen einer Identifizierung ein tadel- und selbstloses Leben geführt haben und zum Idealbild des Inneren liebevollen Erwachsenen passen. Erst solche heiligen und vergotteten Personen sind sozusagen als unanfechtbare Autoritäten ermächtigt, Gnade walten zu lassen und somit so ziemlich jede Sünde zu vergeben und damit das Schuldgefühl zu nehmen, welches der Innere lieblose Erwachsene gegenüber dem Inneren ungeliebten Kind in uns immer wieder auslöst.                                                          
Die Erläuterung soll verdeutlichen, dass es für uns Menschen durchaus hin und wieder die Notwendigkeit für diese innere Einkehr und Zwiesprache über den Umweg einer Identifizierung mithilfe religiös-spiritueller Rituale und das Aufsuchen sakraler Stätten gibt, um wieder mit sich als ein Selbst Eins zu werden und sich in sich selbst zu Hause zu fühlen. Jedoch sollte es nach meiner Auffassung das eigentliche und nachhaltigere Ziel sein, mit Hilfe des neutralen zugewandten ,Dritten’ auch in sich selbst diesen sakralen, geschützten und heiligen Raum für sein Inneres Kind mittels intensiver Selbsterfahrung und Selbstreflexion der eigenen seelischen Räume zu errichten. Hierzu ist jedoch nach der Identifizierung mit religiösen Symbolfiguren nunmehr eine Deidentifizierung von allem Symbolischen, allem Figürlichen und allem Abbild notwendig, um Raum für das eigene Selbst zu schaffen. Denn nur in diesem identitätsleeren inneren Raum kann man im fließenden Prozess (also im Selbstsein, statt im Haben) dem interreligiösen Gott als einem Seinszustand voller Kreativität, Selbstwirksamkeitserleben, Gnade, Zuversicht und Vertrauen der Versöhnung zwischen liebevollem Inneren Erwachsenen und geliebtem Inneren Kind von Kontakt zu Kontakt begegnen. Dieser wahre Gott im Zustand der Ichvergessenheit im Selbst als ständig fortschreitender und sich wandelnder Prozess in uns allen führt uns in Zeiten der Nöte und Finsternis, gibt uns ,unser tägliches Brot’ und ,vergibt uns unsere Schuld’ mit seiner bedingungslosen Liebe und seiner Lebenskraft des Inneren Kindes sowie der Vernunft des Inneren Erwachsenen. Wir sollen auf unserem Lebensweg sozusagen selbst in den Zustand des liebevollen, führenden väterlichen Gottes und zum freien autonomen Sohn Jesus Christus als ein ganzes Selbst im Zustand des Heiligen Geistes werden. Bei Perls, Hefferline und Goodman heißt dieses tiefergehende Selbst als Gefühl auch ,Seele’ (2006, S. 216). Auf diesem Weg verändert sich die blinde und falsche Autoritätshörigkeit und Abhängigkeit des Inneren ungeliebten Kindes gegenüber den ,falschen Propheten’ samt ihren radikalen, egoistischen und pseudomoralischen Verirrungen hin zu einer Beziehung auf Augenhöhe sich selbst gegenüber und gegenüber anderen. So kann aus echter innerer Liebe auch echte Nächstenliebe werden.                       
Die Tempel dieser Welt sollten Orte unserer aufrichtigen Begegnung – gestaltische Kontakte – mit anderen Menschen und vor allem mit uns selbst sein. Jesus ist der bedingungslos geliebte Sohn des Gottvaters. Er ist auch der geliebte Sohn in den Armen seiner bedingungslos liebenden Mutter Maria. Aus entwicklungspsychologischer Sicht benötigt er anfangs noch die Identifizierung mit ihnen als ein Hilfs-Ich oder Selbstobjekt (vgl. Cohen, 2014). Dann jedoch, nachdem diese Teil seines Selbst geworden sind, gibt er sie in seiner Autonomieentwicklung letztlich durch die mutige Hingabe sowohl an den Tod als auch an das Leben auf, grenzt sich von ihnen ab und wird dadurch erst wirklich existenziell frei, leer und zum Medium des Lebens und somit überhaupt erst kontaktfähig als ein Selbst. Erst jetzt gibt er sich entleert von jeder Identifikation, von jedem An-sich als das Für-sich, als das leere Nichts und als das gestaltisch-analytische Selbst dem Strömen des Flusses und dem Brennen der Kerzenflamme – dem Prozess fortschreitender Kontakte auf einer wellenförmigen mathematischen Gesetzesfunktion im Organismus-Umwelt-Feld ohne ein Verhaften an Identifizierungen – vollständig hin und vertraut auf sich Selbst, auf den Prozess und das Leben. Im Abendmahl teilen wir eine um Jesus herum herrschende Bruderliebe auf Augenhöhe und seine von ihm tief verinnerlichte unerschütterliche Zuversicht, mit der er sein Schicksal des Todes mit Hilfe seines an ihn glaubenden Vaters mutig annimmt. Jesus ist quasi eine von mehreren interreligiösen Symbolfiguren für den Prozess der Vereinigung und Versöhnung zwischen dem Inneren liebevollen Erwachsenen und dem Inneren geliebten Kind. Diese Versöhnung machte ihn autonom, frei von Interdependenzen, erwachsen und mutig im Zustand des Höheren Selbst und damit zum ,Gefäß’ als mittleren Modus für die strömende Lebenskraft in uns allen. Letztlich soll dieser Prozess der Versöhnung in den weisen Zustand des Heiligen Geistes münden, ein weiteres Symbol für den ,Lebensstrom’ – das substanzlose Selbst der Gestalttherapie oder das Für-sich Sartres, welches nur dann unbemerkt aber zutiefst wirksam bleibt, solange es frei fließt. Meister Eckhart prägte hierfür den Begriff ,Fünklein’ (vgl. Lasson, 2003, S. 103 ff). Das ist eine gewaltige intra- und interpsychische Botschaft an den Menschen. Er soll anhand dieser religiösen Metaphern in sich selbst Gott, den liebevollen Erwachsenen, der das Innere Kind bedingungslos liebt, finden und symbolisch, wie Jesus, als das Kind Gottes, unbeschwert und ohne Existenzangst sein Leben im Zustand des Heiligen Geistes, des Höheren Selbst und Für-sich in Gnade und Eigenverantwortung meistern (vgl. Chopich & Paul, 2011, S. 244 ff). Dieser Zustand einer grundlegenden inneren Freiheit setzt in der persönlichen Entwicklung zum Ganz- und Selbstwerden und zum Erfahren der eigenen Abgegrenztheit sowohl die Erfahrung von bedingungsloser Liebe als auch die Möglichkeit der Integration gesunder Aggression durch ein haltendes und eingrenzendes Gegenüber voraus. Erst dann sind echte Beziehungen auf Augenhöhe mit gleichen anderen möglich.        
Und erst diese ermöglichen wirklichen Kontakt, nährende Assimilation und dadurch letztlich stetiges Wachstum.



Literatur

Baulig, I., Baulig, V. (2010). Praxis der Kindergestalttherapie, S. 41–45 , 2. Aufl., Bergisch Gladbach: Andreas Kohlhage EHP

Blankertz, S., Doubrawa, E. (2005). Lexikon der Gestalttherapie, S. 291–293, Originalausgabe, Wuppertal: Peter Hammer Verlag

Buber, M. (2009). Ich und Du, 1. Aufl., Stuttgart: Philipp Reclam jun.

Chopich, E. J., Paul, M. (2011). Aussöhnung mit dem Inneren Kind, S. 19–51, 52–59, 244–247, 27. Aufl., Ullstein

Cohen, Y. (2014). Die Entwicklung des Selbst durch den Anderen. In Drews und Endres, Das traumatisierte Kind – Psychoanalytische Therapie im Kinderheim (S. 242–257). Frankfurt/ Main: Brandes & Apsel

Fairbairn, W. R. D. (2007). Das Selbst und die inneren Objektbeziehungen, S. 127–139, Gießen: Psychosozial-Verlag

Freud, S. (1998). Ges. Werke Bd. XIII. Das Ich und das Es, S. 258 f., 10. überarbeitete Aufl., Frankfurt/Main: Fischer

Goodman, P., Hefferline, R. F., Perls, F. S. (2006). Gestalttherapie. Grundlagen der Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung, S. 26–28, 31–33, 76 f., 209–225, 216, 335, 7. neu übersetzte Aufl., Klett-Cotta

Jacobs, L. (2013). Erkenntnisse der psychoanalytischen Selbstpsychologie und Intersubjektivitätstheorie für Gestalttherapeuten. In Bocian & Staemmler, Kontakt als erste Wirklichkeit – Zum Verhältnis von Gestalttherapie und Psychoanalyse (S. 253–257). Köln: EHP Verlag

Kernberg, O. F. (1998). Psychodynamische Therapie bei Borderline-Patienten, S. 21 f.,1. Aufl., Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber

Kriz, J. (2001). Grundkonzepte der Psychotherapie, S. 93–102, 5. Aufl., Weinheim: Beltz

Lasson, A. (2003). Meister Eckhart - Zur Geschichte der religiösen Spekulation in Deutschland, S. 103–109, Wiesbaden: Fourier Verlag

Martino De, R. (1971). Die Situation des Menschen und der Zen-Buddhismus. In De Martino, Fromm & Suzuki, Zen-Buddhismus und Psychoanalyse (S. 181–218). Frankfurt am Main: Suhrkamp
Perls, F. (2007). Das Ich, der Hunger und die Aggression, S.165–182, 7. Aufl., Klett-Cotta

Reich, W. (1999). Charakteranalyse, S. 199–216, 389–439. 6. überarbeitete Aufl., Köln: Kiepenhauer & Witsch

Sartre, J. P. (2006). Das Sein und das Nichts, S. 17–27, 12. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag




 

Interaktion in der Transaktionsanalyse

Dienstag, 5. Juni 2012

Figur und Hintergrund

Andreas Mensch

Geschichtlicher Hintergrund aus der Gestaltpsychologie

Das Begriffspaar Figur-Hintergrund stammt ursprünglich aus der Gestalttheorie der Wahrnehmungspsychologie, die ihrerseits wieder Bestandteil der Allgemeinen Psychologie ist. Lore Perls promovierte als Psychologin in Gestalttheorie (vgl. Kriz, 2001, S. 189 f.) und war entsprechend mit den Gestaltgesetzen sehr vertraut und brachte diese als eine neben weiteren wichtigen Beeinflussungen wie aus der Existenzphilosophie oder dem Zen-Buddhismus in den psychoanalytischen Hintergrund ihres Mannes Fritz Perls zu einem neuen Therapieansatz ein. Um die Vielfältigkeit und Herkunft des Begriffspaares nachvollziehen zu können, muss im Folgenden etwas näher auf die Gestaltpsychologie eingegangen werden.

Die Gestaltpsychologie beschäftigt sich mit den Organisationsprozessen bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken. Sie überlegte, wie wir Sinneseindrücke von der Reizung des Sinnesorgans bis hin zur kognitiven Interpretation bearbeiten. Wichtigste Erkenntnis der visuellen Reizverarbeitung ist hierbei nach Meinung der Gestaltpsychologen die Gliederung der Eindrücke nach Figur und Hintergrund; das heißt, sie werden in eine gegenständliche Figur und einen dahinterliegenden Grund oder Hintergrund gegliedert, von welchem sich die Figur optisch abhebt (vgl. Zimbardo, 1995, S. 189 ff.). Man kann sich einen Stift (Figur) auf einem weißen Blatt Papier (Hintergrund) vorstellen. Es gibt in diesem Organisationsprozess allgemein die Tendenz, das Wahrgenommene als Figur vor einem Hintergrund zu sehen, auch wenn es diese Figur gar nicht gibt wie z.B. angedeutete aber unvollständige Ecken eines Dreiecks, die durch Kreise mit dreieckigen Einschnitten an allen drei Ecken im Auge des Betrachters ein Dreieck entstehen lassen, obwohl alles außer den Kreisen mit Einschnitten weiß ist. Die Organisation der Wahrnehmungseindrücke gehorcht demnach Organisationsgesetzen, die die realen äußeren Reize illusionär durch subjektive Erfahrungen sortieren. Solche Organisationsgesetze bzw. Gestaltgesetze, wie sie unter anderem von Wertheimer, Koffka oder Köhler postuliert wurden, sind zum Beispiel das der Geschlossenheit. Hiernach gibt es bei der Wahrnehmung die Tendenz zur Vervollständigung eigentlich unvollständiger Figuren wie unvollständige Kreise oder eine Mondsichel, die als ganzer runder Kreis gesehen werden. Bei der Gruppierung nimmt man einzelne und von einander eigentlich unabhängige Wahrnehmungsimpulse als eine zusammengehörende Gruppe von Figuren wahr. Unter die Tendenz der Gruppierung fallen die Gestaltgesetze der Nähe (Alles, was nahe zusammen auftritt, wird als zusammengehörig gesehen.), der Ähnlichkeit (Einander ähnliche Elemente werden als zusammengehörig gesehen.) oder des gemeinsamen Schicksals (Elemente mit gleicher Geschwindigkeit oder Richtung werden als zusammengehörig wahrgenommen.). Ein weiteres und sehr wichtiges Gestaltgesetz ist das der Guten Gestalt bzw. der Prägnanz. Es besagt, dass einmal gruppierte Sinnesreize nun durch Abgrenzung von anderen Sinnseindrücken in Formen organisiert werden. Gut oder prägnant werden dabei durch die Einfachheit, die Symmetrie und die Regelmäßigkeit von Elementen einer Wahrnehmungsgruppe bestimmt. Gute Gestalten (Figur-Hintergrundgebilde) sind demnach einfach, regelmäßig, symmetrisch und entsprechend vertraut. Schlechte Gestalten dagegen sind unsymmetrisch, kaum gruppierbar, kompliziert in ihrer Struktur und unregelmäßig. Gute Gestalten sind erinnerungsfähiger und vom visuellen System schneller und ökonomischer kodierbar. Ein regelmäßiges Sechseck wird demnach als „besser“ wahrgenommen als ein unregelmäßiges Fünfeck. Hieraus folgt, dass gute Gestalten letztlich zur besten und einfachsten Interpretation von Sinnesreizen führen. Ein hierbei noch zu erwähnendes Gestaltgesetz ist jenes der Integration von Raum und Zeit. Dieses besagt, dass man in der visuellen Wahrnehmung einzelne Teile in eine Beziehung zueinander und in einen umfassenden räumlichen Kontext organisiert. Einzelne Elemente werden dadurch nach einem größeren und umfassenderen Bezugsrahmen wahrgenommen und nicht nur als einzelnes Phänomen. An den rechten oberen Ecken aneinandergereihte und schräg aufsteigende Vierecke werden demnach als Treppe gesehen, wobei dieselbe Reihung liegend wie aneinandergehängte Drachen gesehen wird.

Gestaltbegriffe in der Psychoanalyse

Es ist nun deutlich geworden, dass viele Begriffe der Gestaltpsychologie direkt in die Gestalttherapie übernommen wurden, hierbei jedoch einen tiefenpsychologischen Kontext erhielten. Unabhängig von Perls versuchte Schultz–Hencke (1951) bereits 1933 als Vertreter der sog. Berliner Schule, die Gestaltgesetze in sein psychoanalytisches Theoriegebäude zu integrieren. Er vertrat die Ansicht, dass jeder Mensch aufgrund seines biografischen, politisch-ökonomischen und sozialen Hintergrundes neurotische Gestalten bzw. Neurosenstrukturen herausbildet, mit welchen er seine Umwelt wahrnimmt und auf sie zugeht (ebd. S. 130). Der entwicklungspsychologische Hintergrund eines Menschen ist danach durch natürliche Antriebserlebnisse wie Aggression, Einverleibung, Nahrungsaufnahme und –ausscheidung etc. und deren Hemmung durch die Umwelt gekennzeichnet. Wenn Grundantriebe bzw. erlebte Bedürfnisse des Kindes durch Versagung oder Überversorgung gehemmt werden, so werden daraus sog. Antriebssprengstücke (ebd. S. 122 f.). Antriebserlebnisse setzen sich danach aus unterschiedlichen Qualitäten wie z.B. Wahrnehmung, Vorstellungen, Emotionen oder Motorik zusammen und sind somit ein komplexes Gefüge bzw. eine Gestalt. Solche Antriebssprengstücke sind im Grunde gehemmte kindliche Bedürfnisse und ungefüllte Lücken unzureichender Befriedigung, die später weiterhin nach Füllung drängen. In sog. Versuchungs- oder Versagungssituationen (ebd. S. 92 ff., 128), welche denen der kindlichen Hemmung ähnlich sind, kommt es erneut zu dem Bedürfnis, die frühere Lücke zu füllen und den Antrieb auszuleben. Nach dieser Annahme konstelliert sich im Leben eines Menschen alles nach diesen Gestalten oder Antriebssprengstücken (ebd. S. 175). Die Ähnlichkeit mit den Ansichten der Gestalttherapie ist hierbei unverkennbar, auch wenn Schultz-Hencke weniger Wert auf den Begriff Figur als vielmehr auf den Begriff Hintergrund legte.

Figur und Hintergrund – die Gestalt in der Gestalttherapie

Perls, Hefferline und Goodman (2007) verweisen in ihrer neu übersetzten theoretischen Grundlegung deutlich auf den gestaltpsychologischen Hintergrund ihres Vokabulars und die hieraus resultierende Entlehnung vieler Begrifflichkeiten. Zudem stellen sie auch klar, dass sie mit dem Begriff Gestalt auch psychoanalytische und philosophische Ideen vereinbaren und implizieren (ebd. S. 12 f.). Die vielleicht simpelste Erklärung, die sie für Gestalt bzw. Figur-Hintergrund geben lautet: „Der Kontext, in dem ein Element erscheint, heißt in der Gestaltpsychologie Hintergrund, von dem sich die Figur abhebt.“ (ebd. S. 14). Der Mensch ist demzufolge im gesunden Sinne eigentlich ein Wesen, das beziehungs- bzw. kontaktbereit, erregbar und bewusst wahrnehmend mit seiner Umwelt verbunden ist und so, je nach innerer Bedürfnislage, Erfahrungen mit dieser assimiliert, was letztlich zum Wachstum des Organismus führt. Aus dem bedürfnislosen Hintergrund treten in der Entwicklungsgeschichte des Menschen durch Erregung des Organismus stetig Figuren (Bedürfnisse, Emotionen, Wahrnehmungen etc.) heraus, die nach Befriedigung durch die Umwelt bzw. nach Schließung drängen (ebd. S. 16 f.). Es taucht im Organismus also ein Mangel (z.B. Hunger oder andere Triebbedürfnisse) auf, der durch Assimilation der Umwelt (Nahrung etc.) ausgeglichen werden soll. Wenn die Figur aus dem Hintergrund heraus tritt, bilden beide eine Gestalt, die von innerer Spannung (psychisch/ körperlich) gekennzeichnet ist. Um diese Spannung bzw. Angst, durch einen Mangel nicht mehr existieren zu können, abzubauen, muss der Organismus mit seiner Umwelt gezielt, bewusst und gewahr in Kontakt treten, um aus dieser das „Fehlende“ zu assimilieren. Findet eine ausreichende Befriedigung statt, wird die Spannung (das Bedürfnis) wieder abgebaut und die Figur sinkt wieder in den diffusen Hintergrund und die Gestalt ist geschlossen (vgl. Kriz, S. 193 f.). Alle organismischen Prozesse wie Wahrnehmung, Fühlen und Denken sind im Kontakt mit der Umwelt zu einem selbstvergessenen Selbst vereinheitlicht, das nur noch im Hier und Jetzt gebündelt ist. Welches Element man wie zur Bedürfnisbefriedigung letztlich aus der Umwelt wählt, hängt von dem biografischen Hintergrund, also der persönlichen Entwicklungsgeschichte ab. Bleiben in der individuellen Entwicklungsgeschichte Bedürfnisse unbefriedigt, also normal aufeinander folgende Kontaktzyklen zur organismischen Selbstregulation unabgeschlossen, so kommt es zur Anhäufung unerledigter Situationen (Frustrationen) und Gestalten im biografischen Hintergrund, die weiterhin nach Schließung drängen und spätere Kontaktzyklen und Gestaltbildungen immer beeinflussen. Es werden sozusagen kleine Traumata durch falsche, unzureichende oder fehlende Bedürfnisbefriedigungen zugrunde gelegt, die in diesen früheren Situationen und in der kindlichen Abhängigkeit die reale Existenz bedrohten, dies jedoch heute nicht mehr tun. Das heißt im Klartext: Frühere offene Gestalten drängen sich gegenüber neuen Gestalten immer vor und stören daher den aktuellen freien bewussten Kontakt mit der Umwelt und färben ihn mit früheren unbefriedigten Bedürfnissen ein. Alte Figur-Grundkonstellationen werden quasi eingefroren und behalten ihre Spannung eines unbefriedigten Bedürfnisses. Diese Spannung wiederum ist die unbewusste Angst, abgelehnt zu werden, verhungern zu müssen etc. und hierdurch letztlich zu sterben. Der Hintergrund dagegen ist weitestgehend angstlose Spannungslosigkeit wie bei vollständig entladenen Platten bzw. Polen eines elektrischen Kondensators. Stark offene und diffuse Gestalten kommen bei diesem imaginären Bild des Kondensators einer diffusen psychischen inneren Zerrissenheit und einer erheblich mangelnden Spannung gleich. So eine mangelnde Spannung gibt wenig Identitätsgefühl und folglich auch sehr wenig Selbstbewusstsein. Sie kommt in ihrer diffusen Angst der Psychose oder geringen Ich-Strukturierung gleich. Das Gegenstück hierzu bildet die Neurose, die dagegen durch spezifische Ängste und damit durch eine klare Spannung gekennzeichnet ist, die jedoch keine Veränderung der verfestigten Identität zulässt. Man könnte es auch wie folgt ausdrücken: Bei diffusen und noch völlig offenen Gestalten herrscht ein sehr schwaches und die Platten kaum anziehendes elektromagnetisches Feld, da die Kondensatorplatten noch weit voneinander entfernt positioniert sind. Man braucht zur Entladung, Schließung und Prägnanz dieser sehr offenen Gestalten bzw. Identitätsfragmente viel Spannung, Anstoß oder Provokation von Außen. Dagegen brauchen prägnantere Gestalten, die nur noch geringfügig geöffnet sind und sich kurz vor der Schließung befinden, lediglich eine minimale Spannung bzw. einen leichten Anstoß von Außen, um sich zu entladen. In diesem Fall sind die Kondensatorplatten als stark geladene Pole neurotisch sehr dicht aneinander und bei leichter Stimulation jederzeit zur blitzartigen Entladung als Lichtbogen bereit. Die Voraussetzung für neue Erfahrungen im Leben bildet die vollständige Schließung einer Gestalt, damit sie dann ohne weitere störende Spannung einer neuen Gestalt weichen und diese ihren Platz einnehmen kann. Erst nach vollständiger Assimilation und Entladung, also Gestaltschließung, kann eine neue Figur aus dem Hintergrund treten und die alte Gestalt langsam ablösen. Nun kann der Organismus ungehindert assimilieren sowie wachsen und letztlich sein Überleben sichern (Goodman, Hefferline, Perls, 2006, S. 25, 268 ff.).

Literatur

Goodman, P., Hefferline, R. F., Perls, F. S. (2006). Gestalttherapie. Grundlagen der Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung, S. 25, 268-271, 7. neu übersetzte Aufl., Klett-Cotta

Goodman, P., Hefferline, R. F., Perls, F. S. (2007). Gestalttherapie. Zur Praxis der Wiederbelebung des Selbst, S. 12 f., 14, 16 f., 9. neu übersetzte Aufl., Klett-Cotta

Kriz, J. (2001). Grundkonzepte der Psychotherapie, S. 189 f., 193 f., 5. überarbeitete Aufl., Weinheim: Beltz

Schultz – Hencke, H. (1951). Lehrbuch der Analytischen Psychotherapie, S. 92-97, 122 f., 128, 130, 175, 2. überarbeitete Aufl., Stuttgart: Georg Thieme

Zimbardo, P. G. (1995). Psychologie. In S. Hoppe-Graf & B. Keller B. (Hrsg.), Psychologie – Wahrnehmung, S. 189-190, 6. überarbeitete Aufl., Augsburg: Weltbild (Original erschienen 1988)