Donnerstag, 16. Juli 2009

Das Eintauchen in den Existenzialismus




Andreas Mensch
Die Silbe ,Ismus’ als solche bedeutet immer schon eine Art Ausschließlichkeit bezogen auf eine Theorie, in welcher bestimmte Thesen auf ihr alleiniges Geltungsrecht innerhalb eines wissenschaftlichen Bereiches beharren. Damit erhält diese Ausschließlichkeit natürlich einen etwas radikalen, polarisierenden und auch negativen Nachklang, denn sie erkennt definitionsgemäß keine andere philosophische Betrachtung der Welt neben sich an. Ein Ismus beansprucht also für sich, innerhalb eines Weltentwurfs im Besitz der einzigen und unumstößlichen Wahrheit zu sein. Alles andere muss einfach falsch oder unzureichend sein. Man mag dem also gerechtfertigterweise entgegenhalten, es sei nur eine von vielen anderen möglichen Betrachtungsweisen und damit auch nur wieder ein grundlegender Entwurf, die Welt aus einer bestimmten Perspektive zu betrachten.

Hier nun aber möchte ich durch eine Sprache in Bildern etwas näher auf die mögliche Bedeutung der Existenzphilosophie eingehen. Gleichwohl ist mir bewusst, dass diese Schilderung irgendwie absolut anmuten muss und der Grad der Verführbarkeit hin zu einem Erheben des Existenzialismus zu einer Transzendenz nicht gerade gering ist. Dennoch möchte ich hier kurz, knapp und bildlich die Bedeutung der Existenzphilosophie für so grundlegende Fragen wie denen nach Sinn, Freiheit, Verantwortung, Geburt, Tod und Gott in den Fokus stellen.

Für mich persönlich zeigt sich die erschütternde Bedeutung der Existenzphilosophie in der unglaublich vielfältigen und fast unüberwindlichen Abwehr des Psychischen gegen die grundlegenden existenziellen Ängste. Es gibt für mich nichts Tieferes und Ehrlicheres, als den Blick in den befürchteten endlosen existenziellen Abgrund zu wagen; den Abgrund, den es sich im Leben immer wieder zu stellen gilt. Alles andere ist Flucht vor der Erkenntnis des eigenen begrenzten und undefinierbaren Seins, das frei gewählt werden muss und nicht durch eine höhere Essenz bestimmt wird. In dem großen Kreis des Existenzialismus verknoten sich Philosophie und Psychologie wie in kaum einem anderen Ismus. Es geht hier primär um das Sein (Ontologie der Philosophie) und die Frage nach dessen psychischer Verortung als Identität oder als Selbst (Psychologie). Der menschliche Kampf, durch bestimmte Entwürfe etwas einmalig Sinnvolles und Bestimmtes sein zu wollen, ist nichts anderes als der Versuch, eine bestimmte feste, dauerhafte und absolute Identität ähnlich einer greifbaren Substanz in der Form eines überdauernden Ichs zu erreichen. Da wir im Grunde undefinierbar und unstetig sind, versuchen wir uns durch den Aufbau einer Identität sein zu machen. Und diese Identität beziehungsweise dieser Seinsentwurf wird natürlich so gewählt, dass er uns im täglichen Leben positive und befriedigende Objektzuwendung und folglich positive Seinsspiegelung durch diese verschafft – wenngleich nicht immer offensichtlich. Unsere Entwürfe sind infolgedessen ausgerichtet auf die Sicherstellung sozialer Beziehungen und damit auch auf die Befriedigung primärer organismischer Bedürfnisse. In diesem Punkt treffen sich Existenzialismus und Psychoanalyse. Was bedeutet dies nun für die reale Lebenspraxis? Freilich lässt sich ein Leben mit permanentem Gewahrsein der eigenen und weltlichen Identitätslosigkeit nicht real gestalten. Man würde wohl ,ver-rückt’ werden wie einst Nietzsche im Zuge seines endlosen Schürfens nach Seinsgrund. Es spricht in diesem Sinne auch nichts gegen eine psychische Abwehr respektive die Ablenkung, die letztlich das Weiterexistieren des Organismus sicherzustellen versucht. Ohne Sinn ist der Mensch schließlich nicht fähig zu existieren, denn Sinn bedeutet Gewählt-sein und daher definierbares und zielgerichtetes Sein. Nur muss die wirkliche Existenz hin und wieder geschaut werden, um sich seiner Abwehr bewusst zu werden. Diese Abwehr verbirgt uns nämlich die Angst vor Eigenverantwortung, Identitätslosigkeit, Sinnlosigkeit, Vergänglichkeit und Einsamkeit. Sie kaschiert die Angst und schützt uns vor ihr durch die Illusion eines überdauernden Ichs. Wird der Schutz aber zu groß – also die einseitige neurotische Identifikation mit einem Ich –, dann behindert dieser Schutz eher das Leben der eigenen Existenz durch Hemmungen, anstatt es zu ermöglichen und zu erleichtern. In einem solchen Fall der einseitigen Identifikation glaube ich, ganz und gar mein Lebensentwurf zu sein. Dadurch bin ich unfähig, andere Seinswahlen als meine bisherigen als möglich erscheinen zu lassen. Ich töte damit unwissendlich alle anderen möglichen Selbstentwürfe und bin verdammt, niemals über meinen Horizont hinauszuwachsen. Ich kann das Maß der Abwehr folglich nur selbst bestimmen, wenn ich die dahinterstehende existenzielle Angst sowie die Verantwortung bezüglich meines selbst gewählten Seinsentwurfs erkenne und die Erfahrung dieser Angst auch zulasse, was insbesondere therapeutisch sehr relevant ist.

Wie sieht das Eintauchen in das wirkliche Leben – in die Existenz – bildlich gesprochen aus? Aus meiner Sicht kommt es dem schrittweisen Entkleiden des Körpers bis zur puren Nacktheit gleich. Alles das, was nicht biologisch zum Organismus gehört, muss dazu abgelegt werden. Kein Schmuckstück, keine Frisur, kein Kleid und nichts Symbolhaftes darf mich auf ein bestimmtes dinghaftes überdauerndes Sein – einen Entwurf – verweisen. Es handelt sich hierbei um die alten neurotischen Kleider, die nicht die meinen sind und die mir vorspielen sollen, ein festes und bestimmtes Sein zu sein. Ich bin jedoch nur ich Selbst in meiner sich ständig ändernden geistigen und organismischen Beschaffenheit und Bewusstheit im unmittelbaren Kontakt mit meiner Umwelt. Dann gilt es, in den zunächst noch als eiskalt empfundenen existenziellen Lebensstrom zu steigen und alles Wärmende sowie Selbsttäuschende hinter sich am Ufer zurückzulassen. Es geht um das Spüren der ewigen und haltlosen Strömung des Lebensflusses, der mich in meiner Befürchtung zunächst unberechenbar, kalt, lebensbedrohlich, vergänglich und chaotisch überall mit hinreißen und ertränken kann. Und dennoch muss ich die Erfahrung machen, dass dieser Strom die Grundlage und Bedingung allen Lebens darstellt. Nur hierdurch wird man sich im existenziellen Kontakt mit seiner Umwelt seines Körpers und seines Existierens in reiner Form ohne jede Ablenkung gewahr. Es ist die Konfrontation mit dem empfundenen chaotischen und sinnlosen ‚da Draußen’, das einen zunächst die individuelle Vereinzelung dann jedoch die grundlegende Verbundenheit mit allem Leben in diesem Strom spüren lässt. Die nackte Nichtseinsangst muss als Todesangst erlebt werden, um den Strom als weniger gefährlich und kalt zu empfinden. Nun geht es aber keineswegs darum, sich rein passiv im ewigen Lebensstrom dahin treiben zu lassen. Es ist klar, dass dies die unweigerliche Auslöschung der eigenen und gerade erst wahrgenommenen Existenz und Selbstbewusstheit in Form einer Psychose bedeuten würde. Vielmehr geht es darum, sich dem Strom immer wieder als ein fließendes unbewusstes Selbst anzuvertrauen und bei einem aus dem Hintergrund des Organismus oder auch der Umwelt auftauchenden Bedürfnis das Ufer des Stromes aufzusuchen, sich erneut wärmende neurotische Kleider überzuziehen, die wir nun einmal zum Überleben benötigen, und in der Form einer Identifikation mit dem Bedürfnis als Ich für eine Befriedigung durch Kontakt mit den lebenserhaltenden Umweltdingen am Ufer zu sorgen. Diesmal jedoch die selbst und bewusst ausgewählten Dinge und nur solche, die nicht zu sehr wärmen und den Blick auf den Strom verbergen. Dasselbe betrifft auch die neuerliche Entfernung vom Strom. Der Abstand muss jetzt so gewählt werden, dass ein ständig wiederkehrendes Anlandgehen und Eintauchen in ihn stets möglich ist. Ein weniger neurotischer Weg entlang des Ufers ist also durchaus ratsam. Das gelegentliche Lagern am wärmenden und sicher ablenkenden Feuer im Beisein einiger Mitmenschen gehört ebenfalls dazu. Es muss dabei aber das Rauschen des Flusses immer wieder im Hintergrund vernommen werden können. Dann wird aus dem einstigen schaurigen Strudeln und Rauschen des Wassers ein vertrautes Strömen und Gurgeln, das einen trägt. Die Freiheit ist dann nicht mehr mein Feind, sondern mein Freund.