Freitag, 26. September 2008

Wir sind das, was uns umgibt

Andreas Mensch
Wer kennt das nicht? Wir verabschieden uns von Menschen, die wir lieb gewonnen und mit denen wir viele private Dinge geteilt haben. Wir trauern der Vergangenheit und den gemeinsamen Erlebnissen hinterher. Wir erinnern uns nicht nur an die Person, sondern auch an die Orte, an denen wir zusammen die Zeit verbrachten. An eine andere Zukunftsperspektive, eine andere Möglichkeit, sein Leben auch ohne diese Menschen und ohne die zu ihnen gehörenden Orte zu leben, kann man in der Aktualität solcher Trennungen nur schlechterdings denken. Das klingt zwar zunächst sehr melancholisch, hat aber auch eine ganz andere Seite, nämlich die romantische. Wie kann man dieses schmerzliche Phänomen aus ontologisch-psychologischer Sichtweise beleuchten? Hierzu möchte ich kurz ein ganz eigenes Beispiel aus meinem Leben einbringen. Seit ich das vertraute Fleckchen Erde in der Niederlausitz, auf dem ich aufgewachsen bin und den größten Teil meiner Kindheit und Jugend verbrachte, verlies, musste ich immer wieder feststellen, in welchem für mich früher unvorstellbaren Ausmaß sich der alles verschlingende Braunkohletagebau in den einst festen Boden meiner Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend unaufhaltsam hineinfrisst. Monat für Monat werden weitere Hektar Abraumgebiet erschlossen, weggebaggert und dadurch landschaftlich grundlegend verändert. Inzwischen sind viele ehemals vertraute Gegenden kaum mehr als das erkennbar, was sie einst für mich bedeuteten. Altbekannte Landstriche wie Wälder, in denen ich noch vor Jahren Pilze sammeln konnte, verschwinden regelrecht in einem Baggerloch und werden zu Mondlandschaften transformiert. In der Folge fahre ich immer wieder mit einem sehr schmerzlichen und diffusen Gefühl einer Mischung aus Trauer und Wut über den Diebstahl meiner mir einst so vertrauten Vergangenheit in diese Landschaft zu Besuch. Über diese Trauer musste ich während meiner Reisen immer wieder sehr lange nachdenken, da sie mich mit zunehmender räumlicher Nähe zur weichenden Vertrautheit immer härter traf und ich sie irgendwann rein gedanklich zu begreifen versuchte, um endlich etwas emotional distanzierter zu werden. Hier nun das Ergebnis meiner Überlegungen.
Was ist denn eigentlich diese diffuse Trauer? Sie ist anscheinend der schmerzliche Verlust eines großen Stückes Identität! Meine alte Umgebung hatte durch meine Erlebnisse in und mit ihr einen eindeutigen Verweis auf mich und damit eine sinnvolle Bedeutung erlangt. Die Wälder, Seen und Flüsse waren Spiegel meiner Erfahrungen und damit eine Art Bühnenkulisse meines Bühnenstücks dieser Tage. Sie spiegelten mir zusammen mit den darin stattgefundenen sozialen Beziehungen einen ganz bestimmten Seinsentwurf meiner Kindheit und Jugend. Bereits der Anblick, der Geruch oder die Geräusche aus meiner Heimat lassen bis heute eine Fülle an Erinnerungen an meinen einstigen Seinsentwurf aufsteigen und zeigen, wie die früheren Erfahrungen mit scheinbar bedeutungslosen Sinneseindrücken verknüpft und codiert abgespeichert wurden. Mein früherer Entwurf war solange unhinterfragt real, wie ihn mir die dazugehörige und scheinbar auf mich bezogene Spiegelkulisse reflektieren, und bestätigen konnte. Mit jedem Bruchstück der Spiegelung, welches durch eine Baggerschaufel verschwand und noch verschwindet, geht ein Stück meines früheren Seinsentwurfs verloren. Der Bezug zu mir reißt dadurch ab und ein Teil meines Entwurfs – meines Seins – geht unwiderruflich dahin und stirbt. Und genau in dem Unwiderruflichen liegt die Tragik. Egal, was einmal aus der Baggerlandschaft werden wird. Egal, ob es einmal ein wunderschönes Landschaftsbild ergeben wird. Es wird nie wieder dieselbe Bezogenheit durch frühere Erfahrungen auf mich haben. Es wird eine ganz neue und andere Bühnenkulisse geschaffen, auf der ich nicht mehr mein Stück spiele, sondern andere, die mit dem Wandel der Kulisse aufwachsen. Derzeit legt sich mir die Ödnis einer sandigen und steppenartigen Haldenlandschaft vor meine Füße, die so scheinbar überhaupt gar keinen Bezug auf etwas Menschliches zu haben scheint. Der einzige Trost in dieser ontologischen Feststellung liegt wieder einmal in der Erkenntnis, dass ich alte Seinsentwürfe rein theoretisch loslassen muss, um neuen Platz zu machen. Die Angst, es sei nun alles verloren, stammt aus dem neurotischen Sicherheitsdenken, dass alles bleiben muss wie es ist oder war. Fakt ist jedoch, dass jeder Entwurf frei wählbar ist und den früheren komplett in seiner Seinsfülle ersetzen kann. Oder etwa nicht? Eigentlich darf man sie noch nicht einmal miteinander vergleichen. Potenziell ist jede Wahl im Leben zunächst gleichwertig. Man muss sich also nur den mutigen Ruck geben, mit allen nicht kalkulierbaren Unsicherheiten und Risiken, die stets auch eine gleichwertige Chance enthalten, neu zu wählen. Und gerade in dem ,nur’ liegt das Problem. Es lässt sich von und vor mir sehr leicht sagen, doch tue ich mich gerade in der Umsetzung dieser Feststellung umso schwerer. Eine Wahl ist eben nicht nur eine rein geistige Angelegenheit. Psychologisch ist sie auch eine emotionale und durch viele unbewusste Faktoren und Vorerfahrungen beeinflusste Angelegenheit.