Geschichtlicher Hintergrund aus der Gestaltpsychologie
Das Begriffspaar Figur-Hintergrund stammt ursprünglich aus der Gestalttheorie der Wahrnehmungspsychologie, die ihrerseits wieder Bestandteil der Allgemeinen Psychologie ist. Lore Perls promovierte als Psychologin in Gestalttheorie (vgl. Kriz, 2001, S. 189 f.) und war entsprechend mit den Gestaltgesetzen sehr vertraut und brachte diese als eine neben weiteren wichtigen Beeinflussungen wie aus der Existenzphilosophie oder dem Zen-Buddhismus in den psychoanalytischen Hintergrund ihres Mannes Fritz Perls zu einem neuen Therapieansatz ein. Um die Vielfältigkeit und Herkunft des Begriffspaares nachvollziehen zu können, muss im Folgenden etwas näher auf die Gestaltpsychologie eingegangen werden.
Die Gestaltpsychologie beschäftigt
sich mit den Organisationsprozessen bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken.
Sie überlegte, wie wir Sinneseindrücke von der Reizung des Sinnesorgans bis hin
zur kognitiven Interpretation bearbeiten. Wichtigste Erkenntnis der visuellen
Reizverarbeitung ist hierbei nach Meinung der Gestaltpsychologen die Gliederung
der Eindrücke nach Figur und Hintergrund; das heißt, sie werden in
eine gegenständliche Figur und einen
dahinterliegenden Grund oder Hintergrund gegliedert, von welchem
sich die Figur optisch abhebt (vgl.
Zimbardo, 1995, S. 189 ff.). Man kann sich einen Stift (Figur) auf einem
weißen Blatt Papier (Hintergrund)
vorstellen. Es gibt in diesem Organisationsprozess allgemein die Tendenz, das
Wahrgenommene als Figur vor einem Hintergrund zu sehen, auch wenn es
diese Figur gar nicht gibt wie z.B.
angedeutete aber unvollständige Ecken eines Dreiecks, die durch Kreise mit dreieckigen
Einschnitten an allen drei Ecken im Auge des Betrachters ein Dreieck entstehen
lassen, obwohl alles außer den Kreisen mit Einschnitten weiß ist. Die Organisation
der Wahrnehmungseindrücke gehorcht demnach Organisationsgesetzen, die die
realen äußeren Reize illusionär durch subjektive Erfahrungen sortieren. Solche
Organisationsgesetze bzw. Gestaltgesetze, wie sie unter anderem von Wertheimer,
Koffka oder Köhler postuliert wurden, sind zum Beispiel das der Geschlossenheit. Hiernach gibt es bei
der Wahrnehmung die Tendenz zur Vervollständigung eigentlich unvollständiger Figuren wie unvollständige Kreise oder
eine Mondsichel, die als ganzer runder Kreis gesehen werden. Bei der Gruppierung nimmt man einzelne und von einander eigentlich
unabhängige Wahrnehmungsimpulse als eine zusammengehörende Gruppe von Figuren wahr. Unter die Tendenz der
Gruppierung fallen die Gestaltgesetze der Nähe (Alles, was nahe zusammen
auftritt, wird als zusammengehörig gesehen.), der Ähnlichkeit (Einander
ähnliche Elemente werden als zusammengehörig gesehen.) oder des gemeinsamen
Schicksals (Elemente mit gleicher Geschwindigkeit oder Richtung werden als
zusammengehörig wahrgenommen.). Ein weiteres und sehr wichtiges Gestaltgesetz
ist das der Guten Gestalt bzw. der Prägnanz. Es besagt, dass einmal
gruppierte Sinnesreize nun durch Abgrenzung von anderen Sinnseindrücken in
Formen organisiert werden. Gut oder prägnant werden dabei durch die
Einfachheit, die Symmetrie und die Regelmäßigkeit von Elementen einer
Wahrnehmungsgruppe bestimmt. Gute Gestalten (Figur-Hintergrundgebilde) sind demnach einfach, regelmäßig,
symmetrisch und entsprechend vertraut. Schlechte Gestalten dagegen sind unsymmetrisch,
kaum gruppierbar, kompliziert in ihrer Struktur und unregelmäßig. Gute
Gestalten sind erinnerungsfähiger und vom visuellen System schneller und ökonomischer
kodierbar. Ein regelmäßiges Sechseck wird demnach als „besser“ wahrgenommen als
ein unregelmäßiges Fünfeck. Hieraus folgt, dass gute Gestalten letztlich zur
besten und einfachsten Interpretation von Sinnesreizen führen. Ein hierbei noch
zu erwähnendes Gestaltgesetz ist jenes der Integration von Raum und Zeit.
Dieses besagt, dass man in der visuellen Wahrnehmung einzelne Teile in eine
Beziehung zueinander und in einen umfassenden räumlichen Kontext organisiert.
Einzelne Elemente werden dadurch nach einem größeren und umfassenderen
Bezugsrahmen wahrgenommen und nicht nur als einzelnes Phänomen. An den rechten
oberen Ecken aneinandergereihte und schräg aufsteigende Vierecke werden demnach
als Treppe gesehen, wobei dieselbe Reihung liegend wie aneinandergehängte
Drachen gesehen wird.
Gestaltbegriffe in der Psychoanalyse
Es ist nun deutlich geworden, dass viele Begriffe der
Gestaltpsychologie direkt in die Gestalttherapie übernommen wurden, hierbei
jedoch einen tiefenpsychologischen Kontext erhielten. Unabhängig von Perls
versuchte Schultz–Hencke (1951) bereits 1933 als Vertreter der sog. Berliner
Schule, die Gestaltgesetze in sein psychoanalytisches Theoriegebäude zu
integrieren. Er vertrat die Ansicht, dass jeder Mensch aufgrund seines
biografischen, politisch-ökonomischen und sozialen Hintergrundes neurotische Gestalten bzw. Neurosenstrukturen
herausbildet, mit welchen er seine Umwelt wahrnimmt und auf sie zugeht (ebd. S.
130). Der entwicklungspsychologische Hintergrund
eines Menschen ist danach durch natürliche Antriebserlebnisse wie Aggression,
Einverleibung, Nahrungsaufnahme und –ausscheidung etc. und deren Hemmung durch
die Umwelt gekennzeichnet. Wenn Grundantriebe bzw. erlebte Bedürfnisse des
Kindes durch Versagung oder Überversorgung gehemmt werden, so werden daraus
sog. Antriebssprengstücke (ebd. S. 122 f.). Antriebserlebnisse setzen sich
danach aus unterschiedlichen Qualitäten wie z.B. Wahrnehmung, Vorstellungen,
Emotionen oder Motorik zusammen und sind somit ein komplexes Gefüge bzw. eine Gestalt. Solche Antriebssprengstücke
sind im Grunde gehemmte kindliche Bedürfnisse und ungefüllte Lücken
unzureichender Befriedigung, die später weiterhin nach Füllung drängen. In sog.
Versuchungs- oder Versagungssituationen (ebd. S. 92 ff., 128), welche denen der
kindlichen Hemmung ähnlich sind, kommt es erneut zu dem Bedürfnis, die frühere
Lücke zu füllen und den Antrieb auszuleben. Nach dieser Annahme konstelliert
sich im Leben eines Menschen alles nach diesen Gestalten oder Antriebssprengstücken (ebd. S. 175). Die Ähnlichkeit
mit den Ansichten der Gestalttherapie ist hierbei unverkennbar, auch wenn
Schultz-Hencke weniger Wert auf den Begriff Figur als vielmehr auf den Begriff Hintergrund legte.
Figur und Hintergrund – die Gestalt in der
Gestalttherapie
Perls, Hefferline und Goodman (2007) verweisen in ihrer neu
übersetzten theoretischen Grundlegung deutlich auf den gestaltpsychologischen Hintergrund ihres Vokabulars und die
hieraus resultierende Entlehnung vieler Begrifflichkeiten. Zudem stellen sie
auch klar, dass sie mit dem Begriff Gestalt
auch psychoanalytische und philosophische Ideen vereinbaren und implizieren
(ebd. S. 12 f.). Die vielleicht simpelste Erklärung, die sie für Gestalt bzw. Figur-Hintergrund geben lautet: „Der
Kontext, in dem ein Element erscheint, heißt in der Gestaltpsychologie Hintergrund,
von dem sich die Figur abhebt.“ (ebd. S. 14). Der Mensch ist demzufolge im
gesunden Sinne eigentlich ein Wesen, das beziehungs- bzw. kontaktbereit,
erregbar und bewusst wahrnehmend mit seiner Umwelt verbunden ist und so, je
nach innerer Bedürfnislage, Erfahrungen mit dieser assimiliert, was letztlich
zum Wachstum des Organismus führt. Aus dem bedürfnislosen Hintergrund treten in der Entwicklungsgeschichte des Menschen durch
Erregung des Organismus stetig Figuren
(Bedürfnisse, Emotionen, Wahrnehmungen etc.) heraus, die nach Befriedigung
durch die Umwelt bzw. nach Schließung drängen (ebd. S. 16 f.). Es taucht im Organismus
also ein Mangel (z.B. Hunger oder andere Triebbedürfnisse) auf, der durch Assimilation
der Umwelt (Nahrung etc.) ausgeglichen werden soll. Wenn die Figur aus dem Hintergrund heraus tritt, bilden beide eine Gestalt, die von innerer Spannung (psychisch/ körperlich) gekennzeichnet
ist. Um diese Spannung bzw. Angst, durch einen Mangel nicht mehr existieren zu
können, abzubauen, muss der Organismus mit seiner Umwelt gezielt, bewusst und
gewahr in Kontakt treten, um aus dieser das „Fehlende“ zu assimilieren. Findet
eine ausreichende Befriedigung statt, wird die Spannung (das Bedürfnis) wieder
abgebaut und die Figur sinkt wieder
in den diffusen Hintergrund und die Gestalt ist geschlossen (vgl. Kriz, S.
193 f.). Alle organismischen Prozesse wie Wahrnehmung, Fühlen und Denken sind
im Kontakt mit der Umwelt zu einem selbstvergessenen Selbst vereinheitlicht, das
nur noch im Hier und Jetzt gebündelt ist. Welches Element man wie zur
Bedürfnisbefriedigung letztlich aus der Umwelt wählt, hängt von dem biografischen
Hintergrund, also der persönlichen
Entwicklungsgeschichte ab. Bleiben in der individuellen Entwicklungsgeschichte
Bedürfnisse unbefriedigt, also normal aufeinander folgende Kontaktzyklen zur
organismischen Selbstregulation unabgeschlossen, so kommt es zur Anhäufung
unerledigter Situationen (Frustrationen) und Gestalten im biografischen Hintergrund, die weiterhin nach
Schließung drängen und spätere Kontaktzyklen und Gestaltbildungen immer
beeinflussen. Es werden sozusagen kleine Traumata durch falsche, unzureichende
oder fehlende Bedürfnisbefriedigungen zugrunde gelegt, die in diesen früheren
Situationen und in der kindlichen Abhängigkeit die reale Existenz bedrohten,
dies jedoch heute nicht mehr tun. Das heißt im Klartext: Frühere offene
Gestalten drängen sich gegenüber neuen Gestalten immer vor und stören daher den
aktuellen freien bewussten Kontakt mit der Umwelt und färben ihn mit früheren
unbefriedigten Bedürfnissen ein. Alte Figur-Grundkonstellationen werden quasi eingefroren
und behalten ihre Spannung eines unbefriedigten Bedürfnisses. Diese Spannung
wiederum ist die unbewusste Angst, abgelehnt zu werden, verhungern zu müssen
etc. und hierdurch letztlich zu sterben. Der Hintergrund dagegen ist weitestgehend angstlose Spannungslosigkeit
wie bei vollständig entladenen Platten bzw. Polen eines elektrischen Kondensators.
Stark offene und diffuse Gestalten kommen bei diesem imaginären Bild des
Kondensators einer diffusen psychischen inneren Zerrissenheit und einer
erheblich mangelnden Spannung gleich. So eine mangelnde Spannung gibt wenig Identitätsgefühl
und folglich auch sehr wenig Selbstbewusstsein. Sie kommt in ihrer diffusen
Angst der Psychose oder geringen Ich-Strukturierung gleich. Das Gegenstück
hierzu bildet die Neurose, die dagegen durch spezifische Ängste und damit durch
eine klare Spannung gekennzeichnet ist, die jedoch keine Veränderung der
verfestigten Identität zulässt. Man könnte es auch wie folgt ausdrücken: Bei
diffusen und noch völlig offenen Gestalten herrscht ein sehr schwaches
und die Platten kaum anziehendes elektromagnetisches Feld, da die
Kondensatorplatten noch weit voneinander entfernt positioniert sind. Man
braucht zur Entladung, Schließung und Prägnanz dieser sehr offenen Gestalten
bzw. Identitätsfragmente viel Spannung, Anstoß oder Provokation von Außen. Dagegen
brauchen prägnantere Gestalten, die nur noch geringfügig geöffnet sind
und sich kurz vor der Schließung befinden, lediglich eine minimale Spannung
bzw. einen leichten Anstoß von Außen, um sich zu entladen. In diesem Fall sind
die Kondensatorplatten als stark geladene Pole neurotisch sehr dicht aneinander
und bei leichter Stimulation jederzeit zur blitzartigen Entladung als
Lichtbogen bereit. Die Voraussetzung für neue Erfahrungen im Leben bildet die
vollständige Schließung einer Gestalt, damit sie dann ohne weitere
störende Spannung einer neuen Gestalt weichen und diese ihren Platz
einnehmen kann. Erst nach vollständiger Assimilation und Entladung, also
Gestaltschließung, kann eine neue Figur
aus dem Hintergrund treten und die
alte Gestalt langsam ablösen. Nun kann der Organismus ungehindert
assimilieren sowie wachsen und letztlich sein Überleben sichern (Goodman,
Hefferline, Perls, 2006, S. 25, 268 ff.).
Literatur
Goodman, P., Hefferline, R. F., Perls, F. S. (2006). Gestalttherapie. Grundlagen der Lebensfreude
und Persönlichkeitsentfaltung, S. 25, 268-271, 7. neu übersetzte Aufl.,
Klett-Cotta
Goodman, P., Hefferline, R. F.,
Perls, F. S. (2007). Gestalttherapie.
Zur Praxis der Wiederbelebung des Selbst, S. 12 f., 14, 16 f., 9. neu
übersetzte Aufl., Klett-Cotta
Kriz, J. (2001). Grundkonzepte der Psychotherapie, S.
189 f., 193 f., 5. überarbeitete Aufl., Weinheim: Beltz
Schultz – Hencke, H. (1951). Lehrbuch der Analytischen Psychotherapie,
S. 92-97, 122 f., 128, 130, 175, 2. überarbeitete Aufl., Stuttgart: Georg Thieme
Zimbardo, P. G. (1995). Psychologie.
In S. Hoppe-Graf & B. Keller B. (Hrsg.), Psychologie – Wahrnehmung, S. 189-190, 6. überarbeitete Aufl.,
Augsburg: Weltbild (Original erschienen 1988)